Sonntagsblatt 2/2019 | Page 25

kündigung von einer „universalen Bestimmung der Erdengüter“. Eine Reflexion darüber, was diese Sozialpflichtigkeit des Eigen- tums in einer Zeit großen materiellen Wohlstands in Europa im Konkreten bedeutet, wäre höchst an der Zeit. Solidarität als so- zialethisches Leitbild für die europäische Politik ist sowohl aus humanen, wie auch aus politischen Gründen heute mehr denn je gefordert. Einer der Flurschäden der ökonomistischen Ära, die sei hier nur kurz angesprochen, besteht in der Aushöhlung der Idee der Ge- meinwohlverantwortung. Die liberalistische Vorstellung, dass das Gemeinwohl die Summe der Einzelwohle sei, ist einer grundle- genden Kritik zu unterziehen. Partei- und Individualinteressen haben ihren Ort, aber sie können nicht als oberstes Ziel von Poli- tik verstanden werden. Diese hat sich vielmehr am allgemeinen Wohl als dem Wohl aller der ihr anvertrauten Personengruppe als Zielwert zu orientieren. Es schadet der Dignität von Politik und entspricht auch nicht ihren realen Gegebenheiten wie jenen menschlicher Wirklichkeit überhaupt, das gesamte Handeln als von (bestenfalls langfristigen) Eigeninteressen geleitet zu be- greifen. Menschen handeln aus unterschiedlichen Motiven und vielfach auch, wenn auch nicht ausschließlich, um der Anderen willen, für die sie Verantwortung tragen. Verantwortungsträger in Leitungsfunktionen sind dazu nicht zuletzt rechtlich verpflichtet. Diese Wiederentdeckung des Gemeinwohls als Zentralbegriff der politischen Ethik fordert heute zugleich zu einer Klarstellung heraus, wie sich das nationalstaatliche, europäische und inter- nationale Gemeinwohl in den jeweiligen Sachbereichen und an- stehenden Fragen zueinander verhalten. Dass zwischen diesen drei Ebenen starke Verflechtungen bestehen, ist offenkundig. Die Frage ist, wie sich dies jeweils auswirkt. So ist in der Klimafra- ge die internationale Ebene leitend, wiewohl auch hier die EU viel bewirken kann und jeder Staat seinen Beitrag leisten muss, in anderen Bereichen könnten die Schwerpunkte anders liegen. Hier käme die wesentliche Frage der Subsidiarität ins Spiel. Das alles kann hier nicht ausgeführt werden. Zu warnen ist jedoch vor einer Entgegensetzung von nationalem und europäischem Gemeinwohl, wie dies heute vielfach geschieht. Wohin dies führt und welche Schwierigkeiten sich daraus im Einzelnen ergeben, zeigen dieser Tage die Brexit-Verhandlungen, die hier – so ist zu hoffen – eine abschreckende Wirkung entfalten. Ich bin, wer ich bin, ich muss nicht wählen - Leben mit der doppelten Identität (Vagyok, aki vagyok, nem kell választanom – Kettős iden- titással az élet) Erschienen am 14. März 2019 im Online-Magazin WMN. Ver- öffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Radojka Filakovity; deutsche Übersetzung: Richard Guth Ich will nicht drum herumreden, mit doppelter Identität aufzu- wachsen ist ein schizophrener Zustand: ein bisschen so, ein bisschen so, aber so richtig keins von beiden. Du gehörst zu die- sem, aber auch zu jenem, aber so richtig nirgendwohin dazu. In diesem komischen Zwischenzustand gibt es nichts Schwierige- res – und Spannenderes –, als dich selbst zu finden und zu er- kennen: Unabhängig davon, dass die Mehrheit es braucht, deine Zugehörigkeit und auf diese Weise dich selbst durch das Dran- hängen eines Etiketts zu bestimmen, darfst du auf keinen Fall dasselbe tun. Ein Beitrag von Radojka Filakovity. Eine stinknormale Vorstellung dauert bei mir 15-20 Minuten. So viel Zeit nimmt in etwa in Anspruch, meinen Namen zweimal zu buchstabieren, auf Wunsch dessen Herkunft und Bedeutung zu erklären, zwecks besseren Einprägens kleine Floskeln zu produ- zieren, einen historischen Ausblick über meine Wurzeln zu bieten SoNNTAGSBLATT und bei Bedarf – welcher stets entsteht – dem lieben Delinquen- ten – den Masseur inbegriffen, während er einen bearbeitet - ei- nige äußerst nützliche Wörter auf Serbisch beizubringen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es ein erhebendes Gefühl ist, neue Menschen kennen zu lernen und ich mag es besonders, wenn bei einem Ereignis mehrere Fremde zugegen sind. Ach so, ich habe es fast vergessen: Ich bin Radojka Filakovity, mein Vorname kommt vom slawischen „Radost”, was „Freude” bedeutet. Mein Kosename lautet „Radi“ – fast wie „Fradi“ (nach dem Budapester Fußballclub Ferencváros (Franzstadt), R. G.), aber wenn wir schon dabei sind, höre ich auch auf den Namen „Dorka“, weil - wenn jemand durch ein Wunder nicht einmal fä- hig ist - sich „Radi“ einzuprägen, dann nennt er mich meistens „Dorka“. Also, ich bin mütterlicherseits Madjarin, väterlicherseits Serbin. Meine Vorfahren kamen nach dem Ende der osmanischen Herr- schaft ins heutige Ungarn und ließen sich in dessen südlichem Teil nieder. Die serbische Kultur und ihre Traditionen haben mei- ne Vorfahren über Religion und Muttersprache bewahrt. Ich könnte länger darüber schreiben, wie sie fern des Mutter- landes die schicksalsträchtigen Jahrhunderte der Geschichte überstanden und darüber, wie sie sich in ihrer neuen Heimat in- tegrierten. Ich könnte über die Traditionen, die Religion und über die Sprache selbst erzählen, aber ich möchte lieber über mich selbst und meine Familie erzählen: Darüber, was es bedeutet, in eine biethnische Ehe hineingeboren zu werden, in einer zwei- sprachigen Familie aufzuwachsen, wie man es schafft neben der doppelten Identität sich selbst zu erkennen – Spoiler: es ist gar nicht so einfach – und was es bedeutet zu einer ethnischen Min- derheit zu gehören in einem immer intoleranteren Umfeld. Fragen, die du nie an einen Menschen mit doppelter Identität stellen sollst Fangen wir ganz vorne an. Ich stamme aus einer zweisprachigen Familie: Mit der mütterlichen Linie kommuniziere ich im Alltag auf Ungarisch, mit der serbischen auf Serbisch. Da es meine Mutter- sprache ist, denke, schreibe, träume und liebe ich auf Ungarisch – selbst Serbisch spreche ich mit ungarischem Akzent. Ungarn ist meine Heimat, aber hinsichtlich Religion und Traditionen bin ich serbisch. Für die Serben im Mutterland bin ich zu ungarisch/ madjarisch, für die Madjaren/Ungarn bin ich zu serbisch. Das er- schwerte meine Selbstbestimmung enorm. Wenn du dich ethnisch von der Mehrheit unterscheidest, dann musst du stets deine Herkunft erklären – und oft auch rechtfertigen. Bis zum heutigen Tage enden die oberflächlichsten Gespräche blitzschnell bei einer der für mich intimsten Fragen: Bist du jetzt Madjarin oder Serbin? Als was fühle ich mich eher? Warum eher als das Eine und nicht als das Andere? Wenn ich Kinder habe, wozu will ich sie erziehen: „Mache” ich aus ihnen „Serben”? Letz- teres fiel übrigens bei einem Vorstellungsgespräch, ich denke, ich muss nicht näher erläutern, warum das für mich in mehrfa- cher Hinsicht peinlich war. Darüber hinaus, dass ich diese Befragungen manchmal als aus- gesprochen unangenehm empfand, war es mir lange Zeit nicht klar, welche Antworten ich auf diese Frage geben soll, denn das „ein wenig beides” befriedigte in den seltensten Fällen meine Gesprächspartner. Sie hatten eine klare, eindeutige Reaktion erwartet, eine Bekenntnis zugunsten der einen oder der ande- ren Seite, was ich nicht selten so erlebt habe, dass ich wegen meinem Serbentum mein Madjarentum verleugnen soll und um- gekehrt. Es kam vor, dass ich mich ins endlose Argumentieren verwickelte, und es kam vor, dass ich auf den ausgeflippesten Parties spontane Geschichtsstunden hielt. Es dauerte lange, bis ich meine eigenen Antworten auf diese keinesfalls diskreten Fra- gen gefunden hatte, aber als es passiert war, berührten sie mich nie wieder. (Fortsetzung auf Seite 26) 25