Warum kommt der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur glei-
chen Zeit zu uns wie bei den „normalen Kindern?”
In Ungarn leben seit Jahrhunderten Serben. In dieser Zeit konn-
ten wir unsere Kultur, Sprache und unsere nationale Zugehörig-
keit über die Religion und die damit verbundenen Traditionen
bewahren – es ist kein Wunder also, dass diese bis heute eine
wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Deshalb war es, als
meine Eltern die Hochzeit planten, gar keine Frage, dass meine
madjarische Mutter katholischen Glaubens zur serbischen Or-
thodoxie konvertiert – so pflegen wir in der Familie die Bräuche,
die zu dieser Religion gehören. Das hat zur Folge, dass wir die
Feste gemäß des Julianischen Kalenders mit einer kleinen Ver-
schiebung feiern.
Wenn etwas, dann war es das, was bei mir anfangs für viel Ver-
wirrung sorgte.
Als ich mein Selbstbewusstsein erlangte, protestierte ich, dass
der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur gleichen Zeit zu uns
kommt wie bei den anderen, „normalen” Kindern. Ich meinte, das
Leben sei ungerecht, weil ich im Vergleich zu meinen Freunden
noch Tage auf meine Geschenke warten musste.
Anfangs war es meine felsenfeste Überzeugung, dass es sich
um ein Missverständnis handelt – vielleicht hat sich Väterchen
Frost bei der Hausnummer vertan -, so habe ich unerschrocken
meine eigenen Versuche gestartet: Ich habe meine Stiefel am 5.
Dezember ebenfalls ins Fenster gestellt – man sagte selbst im
Fernsehen durch, dass man es zu dieser Zeit tun sollte – und ge-
wartet, dass ein Wunder passiert. So erging es auch meinen El-
tern: Sie flehten inbrünstig, auf ein himmlisches Wunder hoffend,
dass ich endlich mit dem Weinen aufhöre, aber trotzdem sind sie
nicht schwach geworden.
Mittlerweile schätze ich ihre Konsequenz, unter anderem so ha-
ben sie mir vermittelt, wie wichtig die Traditionen sind, die unse-
re Familie pflegt, und so halfen sie mir dabei – auch wenn es
mir lange nicht bewusst wurde – zu definieren, wozu ich gehöre.
Schlussendlich konnte man mich wie jedes Kind, das offen für
Antworten ist, mit bloßen Argumenten überzeugen: Nachdem
man mir erklärt hat, dass Väterchen Frost, Jesulein und Osterha-
se meiner madjarischen Großeltern zur gleichen Zeit wie bei den
„normalen” Kindern kommen und meine Schwester und ich so
eigentlich jedes Fest gleich zweimal feiern, habe ich aufgehört,
Anstalten zu machen. Eine Zeit lang, sicher ist sicher, habe ich
meine Stiefel am 5. Dezember ins Fenster gestellt.
Muss ich Angst haben, dass ich eine andere ethnische Zu-
gehörigkeit habe?
Ich war zehn, als die NATO damit begann, Serbien zu bomba-
dieren. Mein Heimatdorf Сантово/Santovo/Hercegszántó liegt
an der Grenze, ich kann mich gut an den scharfen Ton des Luft-
alarms erinnern und daran, wie wir abends im Bett meiner Eltern
liegend hörten, wie die Flugzeuge über uns herfliegen. Lediglich
zwei Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Grenze wurden
Heime dem Erdboden gleichgemacht. Menschliche Existenzen
gingen verloren oder veränderten sich unumkehrbar, unter ihnen
auch die unserer dort lebenden Verwandten. Ich hatte Angst,
dass einer der Piloten sich bei den Koordinaten vertut und auch
wir sterben müssen, dort, im Bett meiner Eltern, das bis zu dem
Zeitpunkt die sicherste Unterschlupf für uns war.
Daneben gab es sehr viele Fragen, die mich beschäftigten: Ich
habe nicht verstanden, warum man an solchen Menschen Rache
üben muss, die für nichts verantwortlich waren. Deren Schuld es
lediglich war, dass sie dort lebten, wo sie lebten und solche sind,
wie sie sind. „Teilweise sind wir auch Serben, müssen wir jetzt
auch Angst haben?” - ich war noch zu klein um zu verstehen,
welche Interessen die Politik beeinflussen. In diesem Monat, am
24., jährt es sich zum 20. Mal, dass die Offensive „Mercifull An-
gel” (Barmherziger Engel) startete, die 78 Tage dauerte. Deren
Spuren trägt das Land immer noch und ich werde diesen Zeit-
abschnitt auch nie vergessen, als ich zum ersten Mal Angst ver-
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spürte, weil ich eine andere ethnische Zugehörigkeit habe.
Aber auch auf das nächste Mal musste man nicht lange war-
ten: Die Situation war natürlich eine andere, aber verursachte
ähnliche Bauchschmerzen, als einige Jahre später die nationa-
listischen Gedanken immer mehr an Bedeutung gewannen und
auch das - wie die Flüchtlingskrise der letzten Jahre - den Frem-
denhass verstärkte. Es ist nicht allzu lange her, als einer meiner
Bekannten von einer Demo auf dem Kossuth-Platz postete - mit
der Botschaft, dass er sich wünsche, dass sein Kind in einem
madjarischen Land aufwachse.
Hat er nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht, welches
Gewicht diese Worte haben? Wie ausgrenzend und hasserfüllt
es ist und was er damit seinem Kind vermittelt?
Ungarn war nie rein madjarisch, zahlreiche, hier lebende Natio-
nalitäten haben sein Schicksal beeinflusst und seine Kultur be-
reichert, unter anderem auch die Serben, die vor der osmani-
schen Besatzung damals hierher flohen. Zählen sie mittlerweile
auch als Fremde? Als Einwanderer, Migranten? Während mich
dies unheimlich verärgert, verspüre ich auch ein hohes Maß
an Mitleid: Es kann furchtbar sein, unter Hass und in Angst vor
einem imaginären Feind zu leben. Und es kann furchtbar sein,
das unseren Kindern weiterzugeben, anstelle sie zu Akzeptanz,
Offenheit und Empathie zu erziehen. Ich habe dann vor dem
Computer geschworen, dass ich nie wieder Angst verspüren will
wegen meiner Herkunft.
Meine Wurzeln, meine Geschichte
Lange Zeit fiel es mir schwer, mich selbst zu definieren, aber
heute bin ich dankbar für meine doppelte Identität, meinen für die
Mehrheit ungewöhnlich klingenden Namen und meine Traditio-
nen. Ich habe gelernt, mich selbst zu vertreten und ich habe mei-
ne Ängste loslassen können, bezüglich dessen, was passiert,
wenn mich andere nicht verstehen. Ich habe akzeptiert, dass ich
immer ein wenig aus der Reihe tanze, aber eben aus dem Grun-
de bin ich diejenige, die ich bin. Weil ich weiß - wohlwissend,
dass es sehr klischeehaft klingt -, dass die zwei Sprachen, die
zwei Kulturen einen bereichern: Sie machen einen offener, tole-
ranter – es braucht aber Zeit, bis man das erkennt und schätzen
lernt und nicht die Lasten sieht, die mit der Verschiedenartigkeit
dahergehen.
Ich weiß es heute, dass der Kirchgang, der einen als Kind un-
heimlich langweilt, die Nationalitätenrezitationswettbewerbe,
die zweisprachigen Schulen dem Zweck gedient haben, meine
Wurzeln besser kennen zu lernen und mich mit ihnen enger ver-
bunden zu fühlen. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen
weniger eine Madjarin wäre.
Mein Serbentum bestimmt mich genauso wie mein Madjarentum,
aber dank meiner Nationalität, der ich angehöre, habe ich einen
Halt, einen Orientierungspunkt, ein Schutznetz in der Welt be-
kommen, was einem - geben wir es zu - gelegen kommt. Zum
Glück habe ich einen Mann gefunden, der all das versteht und
akzeptiert, was damit zusammenhängt – von der Traditionspfle-
ge bis hin zur zahlenmäßig großen, lauten und sehr lebensfro-
hen Verwandtschaft –, und für den es selbstverständlich ist, dass
wir unsere Kinder ebenso zu Serben wie zu Madjaren erziehen
werden.
Heute ist die Antwort auf die Fragen nach meiner Identität ein-
deutig: Ich bin ungarländische Serbin. Ein wenig dies, ein wenig
das. Punkt! Wenn jemand deswegen nicht weiß, wie er mich ein-
ordnen und mit welchem Etikett versehen soll, dann ist das seine
Geschichte, nicht meine. Ich kenne meine und bin außerordent-
lich stolz auf sie.
Quelle:
https://wmn.hu/wmn-life/50419-vagyok-aki-vagyok-nem-kell-va-
lasztanom---kettos-identitassal-az-elet?fbclid=IwAR32X-
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