Sonntagsblatt 2/2019 | Page 26

Warum kommt der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur glei- chen Zeit zu uns wie bei den „normalen Kindern?” In Ungarn leben seit Jahrhunderten Serben. In dieser Zeit konn- ten wir unsere Kultur, Sprache und unsere nationale Zugehörig- keit über die Religion und die damit verbundenen Traditionen bewahren – es ist kein Wunder also, dass diese bis heute eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Deshalb war es, als meine Eltern die Hochzeit planten, gar keine Frage, dass meine madjarische Mutter katholischen Glaubens zur serbischen Or- thodoxie konvertiert – so pflegen wir in der Familie die Bräuche, die zu dieser Religion gehören. Das hat zur Folge, dass wir die Feste gemäß des Julianischen Kalenders mit einer kleinen Ver- schiebung feiern. Wenn etwas, dann war es das, was bei mir anfangs für viel Ver- wirrung sorgte. Als ich mein Selbstbewusstsein erlangte, protestierte ich, dass der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur gleichen Zeit zu uns kommt wie bei den anderen, „normalen” Kindern. Ich meinte, das Leben sei ungerecht, weil ich im Vergleich zu meinen Freunden noch Tage auf meine Geschenke warten musste. Anfangs war es meine felsenfeste Überzeugung, dass es sich um ein Missverständnis handelt – vielleicht hat sich Väterchen Frost bei der Hausnummer vertan -, so habe ich unerschrocken meine eigenen Versuche gestartet: Ich habe meine Stiefel am 5. Dezember ebenfalls ins Fenster gestellt – man sagte selbst im Fernsehen durch, dass man es zu dieser Zeit tun sollte – und ge- wartet, dass ein Wunder passiert. So erging es auch meinen El- tern: Sie flehten inbrünstig, auf ein himmlisches Wunder hoffend, dass ich endlich mit dem Weinen aufhöre, aber trotzdem sind sie nicht schwach geworden. Mittlerweile schätze ich ihre Konsequenz, unter anderem so ha- ben sie mir vermittelt, wie wichtig die Traditionen sind, die unse- re Familie pflegt, und so halfen sie mir dabei – auch wenn es mir lange nicht bewusst wurde – zu definieren, wozu ich gehöre. Schlussendlich konnte man mich wie jedes Kind, das offen für Antworten ist, mit bloßen Argumenten überzeugen: Nachdem man mir erklärt hat, dass Väterchen Frost, Jesulein und Osterha- se meiner madjarischen Großeltern zur gleichen Zeit wie bei den „normalen” Kindern kommen und meine Schwester und ich so eigentlich jedes Fest gleich zweimal feiern, habe ich aufgehört, Anstalten zu machen. Eine Zeit lang, sicher ist sicher, habe ich meine Stiefel am 5. Dezember ins Fenster gestellt. Muss ich Angst haben, dass ich eine andere ethnische Zu- gehörigkeit habe? Ich war zehn, als die NATO damit begann, Serbien zu bomba- dieren. Mein Heimatdorf Сантово/Santovo/Hercegszántó liegt an der Grenze, ich kann mich gut an den scharfen Ton des Luft- alarms erinnern und daran, wie wir abends im Bett meiner Eltern liegend hörten, wie die Flugzeuge über uns herfliegen. Lediglich zwei Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Grenze wurden Heime dem Erdboden gleichgemacht. Menschliche Existenzen gingen verloren oder veränderten sich unumkehrbar, unter ihnen auch die unserer dort lebenden Verwandten. Ich hatte Angst, dass einer der Piloten sich bei den Koordinaten vertut und auch wir sterben müssen, dort, im Bett meiner Eltern, das bis zu dem Zeitpunkt die sicherste Unterschlupf für uns war. Daneben gab es sehr viele Fragen, die mich beschäftigten: Ich habe nicht verstanden, warum man an solchen Menschen Rache üben muss, die für nichts verantwortlich waren. Deren Schuld es lediglich war, dass sie dort lebten, wo sie lebten und solche sind, wie sie sind. „Teilweise sind wir auch Serben, müssen wir jetzt auch Angst haben?” - ich war noch zu klein um zu verstehen, welche Interessen die Politik beeinflussen. In diesem Monat, am 24., jährt es sich zum 20. Mal, dass die Offensive „Mercifull An- gel” (Barmherziger Engel) startete, die 78 Tage dauerte. Deren Spuren trägt das Land immer noch und ich werde diesen Zeit- abschnitt auch nie vergessen, als ich zum ersten Mal Angst ver- 26 spürte, weil ich eine andere ethnische Zugehörigkeit habe. Aber auch auf das nächste Mal musste man nicht lange war- ten: Die Situation war natürlich eine andere, aber verursachte ähnliche Bauchschmerzen, als einige Jahre später die nationa- listischen Gedanken immer mehr an Bedeutung gewannen und auch das - wie die Flüchtlingskrise der letzten Jahre - den Frem- denhass verstärkte. Es ist nicht allzu lange her, als einer meiner Bekannten von einer Demo auf dem Kossuth-Platz postete - mit der Botschaft, dass er sich wünsche, dass sein Kind in einem madjarischen Land aufwachse. Hat er nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht, welches Gewicht diese Worte haben? Wie ausgrenzend und hasserfüllt es ist und was er damit seinem Kind vermittelt? Ungarn war nie rein madjarisch, zahlreiche, hier lebende Natio- nalitäten haben sein Schicksal beeinflusst und seine Kultur be- reichert, unter anderem auch die Serben, die vor der osmani- schen Besatzung damals hierher flohen. Zählen sie mittlerweile auch als Fremde? Als Einwanderer, Migranten? Während mich dies unheimlich verärgert, verspüre ich auch ein hohes Maß an Mitleid: Es kann furchtbar sein, unter Hass und in Angst vor einem imaginären Feind zu leben. Und es kann furchtbar sein, das unseren Kindern weiterzugeben, anstelle sie zu Akzeptanz, Offenheit und Empathie zu erziehen. Ich habe dann vor dem Computer geschworen, dass ich nie wieder Angst verspüren will wegen meiner Herkunft. Meine Wurzeln, meine Geschichte Lange Zeit fiel es mir schwer, mich selbst zu definieren, aber heute bin ich dankbar für meine doppelte Identität, meinen für die Mehrheit ungewöhnlich klingenden Namen und meine Traditio- nen. Ich habe gelernt, mich selbst zu vertreten und ich habe mei- ne Ängste loslassen können, bezüglich dessen, was passiert, wenn mich andere nicht verstehen. Ich habe akzeptiert, dass ich immer ein wenig aus der Reihe tanze, aber eben aus dem Grun- de bin ich diejenige, die ich bin. Weil ich weiß - wohlwissend, dass es sehr klischeehaft klingt -, dass die zwei Sprachen, die zwei Kulturen einen bereichern: Sie machen einen offener, tole- ranter – es braucht aber Zeit, bis man das erkennt und schätzen lernt und nicht die Lasten sieht, die mit der Verschiedenartigkeit dahergehen. Ich weiß es heute, dass der Kirchgang, der einen als Kind un- heimlich langweilt, die Nationalitätenrezitationswettbewerbe, die zweisprachigen Schulen dem Zweck gedient haben, meine Wurzeln besser kennen zu lernen und mich mit ihnen enger ver- bunden zu fühlen. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen weniger eine Madjarin wäre. Mein Serbentum bestimmt mich genauso wie mein Madjarentum, aber dank meiner Nationalität, der ich angehöre, habe ich einen Halt, einen Orientierungspunkt, ein Schutznetz in der Welt be- kommen, was einem - geben wir es zu - gelegen kommt. Zum Glück habe ich einen Mann gefunden, der all das versteht und akzeptiert, was damit zusammenhängt – von der Traditionspfle- ge bis hin zur zahlenmäßig großen, lauten und sehr lebensfro- hen Verwandtschaft –, und für den es selbstverständlich ist, dass wir unsere Kinder ebenso zu Serben wie zu Madjaren erziehen werden. Heute ist die Antwort auf die Fragen nach meiner Identität ein- deutig: Ich bin ungarländische Serbin. Ein wenig dies, ein wenig das. Punkt! Wenn jemand deswegen nicht weiß, wie er mich ein- ordnen und mit welchem Etikett versehen soll, dann ist das seine Geschichte, nicht meine. Ich kenne meine und bin außerordent- lich stolz auf sie. Quelle: https://wmn.hu/wmn-life/50419-vagyok-aki-vagyok-nem-kell-va- lasztanom---kettos-identitassal-az-elet?fbclid=IwAR32X- 2h1OoNhkM4vNSZi0GovhNDEU9XGP1J21x59YFiXURirR60- rIAoooc SoNNTAGSBLATT