kündigung von einer „universalen Bestimmung der Erdengüter“.
Eine Reflexion darüber, was diese Sozialpflichtigkeit des Eigen-
tums in einer Zeit großen materiellen Wohlstands in Europa im
Konkreten bedeutet, wäre höchst an der Zeit. Solidarität als so-
zialethisches Leitbild für die europäische Politik ist sowohl aus
humanen, wie auch aus politischen Gründen heute mehr denn
je gefordert.
Einer der Flurschäden der ökonomistischen Ära, die sei hier nur
kurz angesprochen, besteht in der Aushöhlung der Idee der Ge-
meinwohlverantwortung. Die liberalistische Vorstellung, dass das
Gemeinwohl die Summe der Einzelwohle sei, ist einer grundle-
genden Kritik zu unterziehen. Partei- und Individualinteressen
haben ihren Ort, aber sie können nicht als oberstes Ziel von Poli-
tik verstanden werden. Diese hat sich vielmehr am allgemeinen
Wohl als dem Wohl aller der ihr anvertrauten Personengruppe
als Zielwert zu orientieren. Es schadet der Dignität von Politik
und entspricht auch nicht ihren realen Gegebenheiten wie jenen
menschlicher Wirklichkeit überhaupt, das gesamte Handeln als
von (bestenfalls langfristigen) Eigeninteressen geleitet zu be-
greifen. Menschen handeln aus unterschiedlichen Motiven und
vielfach auch, wenn auch nicht ausschließlich, um der Anderen
willen, für die sie Verantwortung tragen. Verantwortungsträger in
Leitungsfunktionen sind dazu nicht zuletzt rechtlich verpflichtet.
Diese Wiederentdeckung des Gemeinwohls als Zentralbegriff
der politischen Ethik fordert heute zugleich zu einer Klarstellung
heraus, wie sich das nationalstaatliche, europäische und inter-
nationale Gemeinwohl in den jeweiligen Sachbereichen und an-
stehenden Fragen zueinander verhalten. Dass zwischen diesen
drei Ebenen starke Verflechtungen bestehen, ist offenkundig. Die
Frage ist, wie sich dies jeweils auswirkt. So ist in der Klimafra-
ge die internationale Ebene leitend, wiewohl auch hier die EU
viel bewirken kann und jeder Staat seinen Beitrag leisten muss,
in anderen Bereichen könnten die Schwerpunkte anders liegen.
Hier käme die wesentliche Frage der Subsidiarität ins Spiel. Das
alles kann hier nicht ausgeführt werden. Zu warnen ist jedoch
vor einer Entgegensetzung von nationalem und europäischem
Gemeinwohl, wie dies heute vielfach geschieht. Wohin dies führt
und welche Schwierigkeiten sich daraus im Einzelnen ergeben,
zeigen dieser Tage die Brexit-Verhandlungen, die hier – so ist zu
hoffen – eine abschreckende Wirkung entfalten.
Ich bin, wer ich bin, ich muss nicht wählen
- Leben mit der doppelten Identität
(Vagyok, aki vagyok, nem kell választanom – Kettős iden-
titással az élet)
Erschienen am 14. März 2019 im Online-Magazin WMN. Ver-
öffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Radojka
Filakovity; deutsche Übersetzung: Richard Guth
Ich will nicht drum herumreden, mit doppelter Identität aufzu-
wachsen ist ein schizophrener Zustand: ein bisschen so, ein
bisschen so, aber so richtig keins von beiden. Du gehörst zu die-
sem, aber auch zu jenem, aber so richtig nirgendwohin dazu. In
diesem komischen Zwischenzustand gibt es nichts Schwierige-
res – und Spannenderes –, als dich selbst zu finden und zu er-
kennen: Unabhängig davon, dass die Mehrheit es braucht, deine
Zugehörigkeit und auf diese Weise dich selbst durch das Dran-
hängen eines Etiketts zu bestimmen, darfst du auf keinen Fall
dasselbe tun. Ein Beitrag von Radojka Filakovity.
Eine stinknormale Vorstellung dauert bei mir 15-20 Minuten. So
viel Zeit nimmt in etwa in Anspruch, meinen Namen zweimal zu
buchstabieren, auf Wunsch dessen Herkunft und Bedeutung zu
erklären, zwecks besseren Einprägens kleine Floskeln zu produ-
zieren, einen historischen Ausblick über meine Wurzeln zu bieten
SoNNTAGSBLATT
und bei Bedarf – welcher stets entsteht – dem lieben Delinquen-
ten – den Masseur inbegriffen, während er einen bearbeitet - ei-
nige äußerst nützliche Wörter auf Serbisch beizubringen. Es ist
nicht übertrieben zu behaupten, dass es ein erhebendes Gefühl
ist, neue Menschen kennen zu lernen und ich mag es besonders,
wenn bei einem Ereignis mehrere Fremde zugegen sind.
Ach so, ich habe es fast vergessen: Ich bin Radojka Filakovity,
mein Vorname kommt vom slawischen „Radost”, was „Freude”
bedeutet. Mein Kosename lautet „Radi“ – fast wie „Fradi“ (nach
dem Budapester Fußballclub Ferencváros (Franzstadt), R. G.),
aber wenn wir schon dabei sind, höre ich auch auf den Namen
„Dorka“, weil - wenn jemand durch ein Wunder nicht einmal fä-
hig ist - sich „Radi“ einzuprägen, dann nennt er mich meistens
„Dorka“. Also, ich bin mütterlicherseits Madjarin, väterlicherseits
Serbin.
Meine Vorfahren kamen nach dem Ende der osmanischen Herr-
schaft ins heutige Ungarn und ließen sich in dessen südlichem
Teil nieder. Die serbische Kultur und ihre Traditionen haben mei-
ne Vorfahren über Religion und Muttersprache bewahrt.
Ich könnte länger darüber schreiben, wie sie fern des Mutter-
landes die schicksalsträchtigen Jahrhunderte der Geschichte
überstanden und darüber, wie sie sich in ihrer neuen Heimat in-
tegrierten. Ich könnte über die Traditionen, die Religion und über
die Sprache selbst erzählen, aber ich möchte lieber über mich
selbst und meine Familie erzählen: Darüber, was es bedeutet,
in eine biethnische Ehe hineingeboren zu werden, in einer zwei-
sprachigen Familie aufzuwachsen, wie man es schafft neben der
doppelten Identität sich selbst zu erkennen – Spoiler: es ist gar
nicht so einfach – und was es bedeutet zu einer ethnischen Min-
derheit zu gehören in einem immer intoleranteren Umfeld.
Fragen, die du nie an einen Menschen mit doppelter Identität
stellen sollst
Fangen wir ganz vorne an. Ich stamme aus einer zweisprachigen
Familie: Mit der mütterlichen Linie kommuniziere ich im Alltag auf
Ungarisch, mit der serbischen auf Serbisch. Da es meine Mutter-
sprache ist, denke, schreibe, träume und liebe ich auf Ungarisch
– selbst Serbisch spreche ich mit ungarischem Akzent. Ungarn
ist meine Heimat, aber hinsichtlich Religion und Traditionen bin
ich serbisch. Für die Serben im Mutterland bin ich zu ungarisch/
madjarisch, für die Madjaren/Ungarn bin ich zu serbisch. Das er-
schwerte meine Selbstbestimmung enorm.
Wenn du dich ethnisch von der Mehrheit unterscheidest,
dann musst du stets deine Herkunft erklären – und oft auch
rechtfertigen.
Bis zum heutigen Tage enden die oberflächlichsten Gespräche
blitzschnell bei einer der für mich intimsten Fragen: Bist du jetzt
Madjarin oder Serbin? Als was fühle ich mich eher? Warum eher
als das Eine und nicht als das Andere? Wenn ich Kinder habe,
wozu will ich sie erziehen: „Mache” ich aus ihnen „Serben”? Letz-
teres fiel übrigens bei einem Vorstellungsgespräch, ich denke,
ich muss nicht näher erläutern, warum das für mich in mehrfa-
cher Hinsicht peinlich war.
Darüber hinaus, dass ich diese Befragungen manchmal als aus-
gesprochen unangenehm empfand, war es mir lange Zeit nicht
klar, welche Antworten ich auf diese Frage geben soll, denn das
„ein wenig beides” befriedigte in den seltensten Fällen meine
Gesprächspartner. Sie hatten eine klare, eindeutige Reaktion
erwartet, eine Bekenntnis zugunsten der einen oder der ande-
ren Seite, was ich nicht selten so erlebt habe, dass ich wegen
meinem Serbentum mein Madjarentum verleugnen soll und um-
gekehrt. Es kam vor, dass ich mich ins endlose Argumentieren
verwickelte, und es kam vor, dass ich auf den ausgeflippesten
Parties spontane Geschichtsstunden hielt. Es dauerte lange, bis
ich meine eigenen Antworten auf diese keinesfalls diskreten Fra-
gen gefunden hatte, aber als es passiert war, berührten sie mich
nie wieder.
(Fortsetzung auf Seite 26)
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