Sonntagsblatt 2/2019 | Page 17

Marshall-Hilfe in Anspruch nahm, mehr, die DDR, der Stalin nicht gestattete, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, eher weniger. Trotzdem war die ostdeutsche Sozialpolitik immer noch viel bes- ser als sonst wo im sozialistischen Lager. 40 Jahre lang kostete ein Bier 1,05 Mark, die Semmel 5 Pfennige. Die jungen Leute, die heirateten, bekamen so gut wie sofort eine Wohnung zuge- wiesen sowie spottbillige Fahrkarten und die grundlegenden Gü- ter in Hülle und Fülle - genau berechnet nach Notwendigkeit. Sa- bine – die sich im Sommer 1973 in Ungarn gründlich umschaute – wies in ihrem Brief auf einen recht sensiblen Punkt ihrer Bezie- hung hin: Hier gäbe es alles, in Ungarn nur noch kleine staatliche Geschenke und die auch nicht für jedermann, die Gesellschaft dort teile sich in Arm und Reich auf. Ihre Entscheidung, wozu sie im Übrigen von ihren Vorgesetzten gezwungen wurde, hat dieser Umstand ebenfalls erleichtert. Die militärischen Interessen der Sowjetunion benötigten, dass die Gesellschaft so wenig wie möglich bahnbrechenden struktu- rellen Veränderungen ausgesetzt wird. Den geeigneten Partner dafür meinten sie in der Person der Kleinbürger beziehungswei- se in deren Synonym, der Blue-Collar-Arbeiterschaft, gefunden zu haben, die - auch wenn nicht so sehr wie ihr BRD-Counter- part - sich materiell weiterentwickeln wollte, aber hinsichtlich Le- bensstil und Attitüden nicht zur Mittelschicht werden wollte, also eine problemlose Mammutschicht, die leicht zu handhaben war und die politisch einfach in die Bedeutungslosigkeit geführt wer- den konnte. In Moskau wusste man wohl, dass die Kleinbürger, die das Rückgrat der Gesellschaft bildeten, sich mit Wenigem begnügen. Wenn die Staatsführung sie darum bittet, als graue Mäuse ihr Leben zu fristen, dann machen sie das bereitwillig, um nur das zu bekommen, was zu ihrer bescheidenen Lebensfüh- rung und zu ihrem zunehmenden Wohlstand im kleinen Rahmen notwendig ist. Zum Erfolg der Manipulation trug noch ein wichtiger Umstand bei: Die ostdeutsche Gesellschaft wurde – vergessen wir nicht: Der Sozialismus entstand auf preußischem Boden! – durch die Jahrhunderte alte Tradition des Obrigkeitsglaubens und der Ausführung von Befehlen in Schranken gehalten. Mit Hilfe des Zuckerbrotes entwickelte sich die Gesellschaft der DDR in vier- zig Jahren zu einer gehorsamen Massengesellschaft, in der aus der Abschottung das fast unerträgliche Einheitsgrau des Alltags erwuchs. Die einzige Farbe – zu großem Kummer von Hone- cker und seiner Getreuen – brachten die Westsendungen. In der abendlichen Dunkelheit richteten sich die Antennen auf den Bal- konen der Plattenbausiedlungen auf den Westen, und diese be- wusstseinsgespaltene Gesellschaft beobachtete im Fernsehen - über diesen riesigen Gucker - gespannt, wie eine bessere Welt drüben glänzte. Die Probleme – wie in Ungarn – begannen von 1981 an peu á peu in erster Linie wegen der bayerischen Ban- kenkredite. Bis 1989 hat sich die Wirtschaftskrise vertieft, was zum zügigen Zusammenbruch der DDR führte. Am 7. Oktober wurde zu Ehren des 40. Jahrestages der Grün- dung der DDR noch eine großangelegte Feier veranstaltet. Die SED unter der Leitung von Erich Honecker widerstand noch lan- ge der Perestroika, der Reformpolitik unter Gorbatschow. Der Gnadenschuss kam direkt von Gorbatschow. Auf der Großkund- gebung am 7. Oktober sagte er – angeblich spontan – den zur Legende gewordenen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.” Der Zerfall beschleunigte sich. Am 18. Oktober war Honecker po- litisch bereits tot und die neue Führungsfigur Egon Krenz konnte auch nichts mehr der aufbrechenden Volksbewegung entgegen- setzen. Es stellte sich heraus, dass die Stabilität der Gesellschaft nur solange Bestand hat, als die Sozialpolitik der Führung sie unterstützt. Die Nachkommen der bis in die 1960er im Starr- zustand befundenen DDR-Generation sind erwachsen gewor- den und wollten eine neue Welt. Massenproteste von Millionen brachten die Sache in den größeren Städten weiter voran: Es SoNNTAGSBLATT floh aus dem Land, wer nur konnte. Die Berliner Mauer, die seit 1961 stand, hat das Volk zerstört. Im Frühling 1990 begannen zwischen den Besatzungsmächten und den beiden deutschen Staaten die so genannten 4+2-Verhandlungen, am 31. August unterzeichnete man den Wiedervereinigungsvertrag, am 3. Ok- tober kam zum letzten Mal das DDR-Parlament zusammen, um dann bei den Klängen der DDR-Hymne die Flagge einzuziehen. Um Mitternacht wurde die Einheit vollzogen. Der Fahrgast der Čajka (Tschaika) Csaba F. traf die Trennung 1973 wie ein Schock. Es dauerte anderthalb Jahre, bis er sich dank der psychiatrischen und me- dikamentösen Behandlung wieder als vollwertiger Kämpfer der Germanistik widmen konnte. Misserfolg hin oder her, blieb er mit der DDR tausendfach verbunden. Anfang Oktober 1989, auf Bit- ten seines damaligen Arbeitgebers in Százhalombatta, beteiligte er sich als Dolmetscher an der Vierzig-Jahr-Feier in Schwedt. Das brandenburgische Städtchen war dreißig Jahre lang Part- nerstadt von Százhalombatta. Csaba F. sah nie zuvor ein „freu(n) dloseres” Freundschaftstreffen. Auf den Empfängen und manch- mal auch vor dem Plenum gab es eine Flut von Vorwürfen: ab- weichlerisches, revisionistisches, wortbrechendes Ungarn, Ver- räter Miklós Németh, Gleisner Horn und Pozsgay. Während das Paneuropapicknick bei Ödenburg bereits stattgefunden hat, die Botschaften voll mit Flüchtlingen waren, feierte die Führung der Brandenburger Industriestadt, die um das Kraftwerk herum er- baut worden war, gegen ihre eigenen Bürger mit dem gleichen Zynismus wie in der gesamten DDR. Auf dem Rückweg am 6. Oktober fand er den größten Flughafen der DDR, den Flughafen Schönefeld, im Belagerungszustand vor. Die riesige Wartehalle war voll mit Flüchtlingen. Decken, Matratzen und Schlafsäcke la- gen überall auf dem Boden, die Toiletten funktionierten gerade noch so und das Büffet war nicht imstande, die beinahe 5000 Menschen zu versorgen. Familien mit mehreren Kindern - jede Familie lebte schon seit Tagen auf je einer Decke und wartete auf einen Flugschein oder eine Bordkarte. Von Zeit zu Zeit tra- fen Verwandte aus der Stadt mit Brot und Salami ein und die kleinen Gruppen fielen dann begierig über das Essen her und auch die „Bewohner” der Nachbarsdecken kriegten ein Stück ab. In der zusammengerotteten Menge, vom Zwang der Flucht ge- trieben, spielten sich dramatische Konflikte ab. Beim Check-In gab es Störungen. Man wollte in einer der Familien ein Kleinkind hineinschmuggeln. Es hatte keinen Flugschein. Dem Onkel, der mit dem leeren Brotkorb dastand, wäre die angenehme Aufga- be zugekommen, das Kind in die Stadt zurückzubringen. Csaba F. fasste den Entschluss, sein eigenes Ticket auf das Kind um- schreiben zu lassen. „Irgendwie werde ich schon heimkommen”, dachte er. Das Geschäft wäre beinahe zustande gekommen, als zwei Männer in Lederjacke und eine Frau erschienen. Er wurde höflich aufgefordert, ihnen auf den Parkplatz gleich neben dem Gebäude zu folgen. In der Halle gab es nicht einmal mehr Licht, es herrschte Dämmerzustand. Csaba F. konnte sein Auge nicht von der hübschen Frau in Lederjacke, die sich im Hintergrund aufhielt, nehmen. Ihre Körperbewegung, ihre Figur, ihre Haar- farbe, und als sie anfing zu sprechen, ihre Stimme… Das lange gehegte Wunschbild erwachte in ihm - das der zufälligen Begeg- nung. Was würde er nicht alles dafür geben, wenn die Frau in der Lederjacke Sabine wäre. Denn in 16 Jahren verändert sich so viel. Aber draußen auf dem Parkplatz im Tageslicht stellte sich heraus, dass die Frau nicht Sabine war, nur eine ähnliche Frau - genauer gesagt – die gleiche. Er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen danach, in Ermangelung von Sabine dieser Frau zu erzählen, was aus ihm wurde. Unter dem Zwang welchen Irrge- dankens er sich dafür entschied, sich der Sekte dieser käferähn- lichen, kurzbeinigen Gestalten mit unergründlichen Gesichtern anzuschließen. Er hätte gesagt, wie zweifelhaft die Selbstauf- opferung für einen deformierten Staatsgedanken ist. „Für das sozialistische Vaterland?” Jetzt, in der Apokalypse der Auflösung hätte es die Frau sogar noch verstanden. Er hatte aber keine Möglichkeit dafür. Nach einigen Sekunden Bedenkzeit ging er (Fortsetzung auf Seite 18) 17