Es stellt sich die Frage, warum. Die Antwort ist einfach: aus mi-
litärischen Gründen. Ungarn und das seit 1955 neutrale Öster-
reich waren lediglich eine geostrategische Zone, die man sogar
noch verlassen könnte (1956 stellte man in Moskau derartige
Überlegungen ernsthaft an), wohingegen die deutsche und pol-
nische Tiefebene schon immer als europäischer Aufmarschplatz
russischer Streitkräfte diente. Das militärische Denken, einst rus-
sisch nun sowjetisch, konnte nie mit diesem Stereotypen bre-
chen, aber auch aus logischen Gründen konnte man das auch
nicht einfach negieren. Summa summarum: Das vor 60 Jahren
geschaffene Land wurde zum bipolaren Gleichgewicht des euro-
päischen Kontinents.
Orwell‘scher Alptraum
Die sogenannte GSTD, also die Gruppe der sowjetischen Be-
satzungsarmee in Deutschland bestand am Ende des Krieges
aus 1,5 Millionen Soldaten. Diese Streitkraft wurde bis 1947
auf 350.000 reduziert, dann wieder auf 600.000 erhöht, danach
wieder auf 380.000 reduziert, welche Zahl bis 1994 im Großen
bestanden hat, bis zum vollständigen Abzug der sowjetischen
Streitkräfte. Im März 1954 wurden sie in GSSD umbenannt, was
ein Signal war, denn hier fehlte das Wort „Besatzer”. Auf die
DDR-Gesellschaft wirkte die Namensänderung trotzdem nicht
beruhigend, denn das Waffenarsenal entwickelte sich schlag-
artig, die ständige uniformierte Militärpräsenz der Sowjets auf
den Straßen führte zu offenen Konflikten mit der Zivilbevölke-
rung. Während man in Ungarn bemüht war, die Truppen von der
Zivilbevölkerung zu isolieren, die Kasernen am Dorf- und Stadt-
rand zu platzieren, „lebten” die 220.000 Familienmitglieder, unter
ihnen 90.000 Kinder, in der DDR praktisch „unterm Volk”. Die
Bevölkerung musste wegen des Verhaltens der betrunken ran-
dalierenden sowjetischen Offiziere vieles ertragen.
1981 standen in 276 Ortschaften sowjetische Kasernen, es gab
47 Flugplätze und 116 Übungsplätze, es waren 4200 moderne
Panzer, 3600 Geschütze, 690 Flugzeuge, 95.000 Transportfahr-
zeuge und 670.000 Tonnen Munition stationiert. Laut Militärex-
perten reichte Letzteres aus, um die westeuropäischen Länder
dreimal zu verwüsten. Und was das Gefährlichste war: 180 ver-
schiedene Raketensysteme, natürlich mit nuklearen Sprengköp-
fen. Die Unterhaltung eines derart riesigen Arsenals bedurfte
auch militärisch großer Fachkenntnis, aber in erster Linie poli-
tisch war dessen Inbetriebhalten kein Kinderspiel. Auf der poli-
tischen Elite der DDR lastete die ganze Zeit ein enormer Druck
und größtenteils erklärt das den vom allen abweichenden, aber
dennoch abstoßenden Charakter (Anm.: des DDR-Systems).
Denn in der Sowjetunion war die „Behandlung” der Massen kein
Problem, nachdem die despotischen und brutalen Methoden des
Zarenregimes sowohl das Stalin‘sche als auch das Breschnew-
sche Lenkungsmodell wie selbstverständlich übernommen hat
und sogar weiterentwickelte. In der DDR kam dieser harsche Ton
nicht an, man musste feinere, raffiniertere Techniken ausdenken.
Das politische System der DDR wirkte deswegen so abstoßend
auf seine Bürger und das Ausland, weil fast alles, was in den
vierzig Jahren passierte, diametral zu den humanistischen Tradi-
tionen stand, die die deutsche Kultur mit Europa verband. Es ist
wahr, dass in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus diese
humanistischen Normen eine Pause eingelegt haben, aber da-
nach hat die Welt dennoch das, was auf deutschem Boden nach
1949 passierte, mit den alten deutschen Traditionen verglichen.
Und in dieser Beziehung hat die DDR total versagt.
Genau das wurde nicht umgesetzt, was der junge Goethe in sei-
nem Drama „Torquato Tasso” verkündet, dass wir unsere ange-
borenen aggressiven Triebe ablegen müssen; der humanistische
Mensch kann nur so für Ordnung und Disziplin sorgen, wenn er
sich selbst bezwingt. Der Partei- und Staatsapparat der DDR
hat den europäischen Macciavellismus mit der aus der Sowjet-
union übernommenen stalinistischen Brutalität vermischt. Weder
das eine noch das andere hatte etwas mit Goethe zu tun, auch
nicht mit den anderen: mit Hermann Hesse oder Thomas Mann.
16
Das berühmte Gedicht Hermann Hesses von dem deutschen
Kriegsheimkehrer voller Selbstzweifel, den „die Scham zu Bo-
den drückt”, war eine kaum zitierte, an den Rand gedrückte Perle
der deutschen Lyrik: „Aber wir hoffen. Und in der Brust lebt uns
glühende Ahnung von den Wundern der Liebe.” Die DDR sahen
tatsächlich auch schon viele andere Zeitgenossen als einen gro-
ßen Militärübungsplatz an, der von einer lieblosen und zynischen
politischen Elite regiert wird und wo die menschlichen Initiativen
unterdrückt sind und eine graue Elite versucht die ganze Gesell-
schaft ins Einheitsgrau zu drängen.
Das in George Orwells Roman „1984” Beschriebene konnte -
zum Glück – noch keine Diktatur vollständig umsetzen. Es ist
aber nicht auszuschließen, dass unter bestimmten Gesichts-
punkten gerade die DDR die Stufe erreicht hat, die dem Orwell‘-
schen Alptraum am nächsten stand. Wer übte die Macht aus?
Orwell spricht von grauen Männchen, von käferähnlichen Men-
schen, deren Gesicht unergründlich ist, die schnell an Gewicht
zunehmen und oft in unterschiedlichen Ministerien vorkommen.
„Es sieht so aus, als würde dieser Menschenschlag unter der
Parteiherrschaft am besten gedeihen”, schreibt Orwell. Auf den
Seiten von „1984” werden Tausende Menschen getötet, nach Or-
wells Phantasiebild werden sie „verdampft”. Wen verdampft man
denn nicht? „Parson, die schnatternde Gestalt ohne Augen wird
man nie verdampfen. Die kleinen, käferähnlichen Menschen, die
sich so schnell im Gängelabyrinth der Ministerien bewegen, wird
man nie verdampfen.” Wilhelm Pieck, der erste Staatspräsident
der DDR, hat in den dunklen Jahren der Moskauer Verbannung
die Säuberungen überstanden, sein Nachfolger Walter Ulbricht
ebenso. In der ersten Führungsriege der DDR – bis auf Willi
Stoph – gehörte jeder zu diesem grauen Menschenschlag, der
sich versteckt hielt und unter allen Umständen am Leben bleibt,
was dann bis zum Sturz im Jahre 1989 aufgrund der Kontrase-
lektion zum bestimmenden Trend bei der Auswahl der Führungs-
kader wurde - bis hinunter zu den Kreissekretären oder weiter
hinunter. Die doktrinären marxistischen Parteifunktionäre waren
aufgrund ihrer Borniertheit, Engstirnigkeit und ihres Servilismus
selbst im sozialistischen Lager legendär. Die Gedankenpolizei,
ein von Orwell erfundenes Phantasieorgan, das auch in die Köp-
fe der Menschen hineinblicken kann, wurde in Gestalt der Stasi
in den Jahren der Diktatur quasi verwirklicht. Der Fall von Sa-
bine und Csaba F. ist eine harmlose Romanze im Vergleich zu
den Übergriffen auf die Staatsbürger: Nötigung von Familienmit-
gliedern innerhalb der Familie zu spionieren, Vergiftung von zu
aktiven evangelisch-lutherischen Geistlichen durch Depressiva,
Nötigung von überführten Frauen zu sexuellen Diensten, Folter...
Diese weniger offene, aber im Tiefsten brutale Form der kom-
munistischen Herrschaft erwies sich – obwohl dies keinesfalls
den Wünschen der Bürger entsprach – als die beste, DDR-spe-
zifische Methode. Sie beruhte auf drei festen Säulen. Die erste
war die Anwesenheit der Sowjetarmee, die zweite die omniprä-
sente Überwachungsgedankenpolizei und die dritte der generell
kleinbürgerliche Charakter der deutschen Gesellschaft. Die dritte
scheint ein wenig aus dem Rahmen zu fallen, aber aufgrund der
tieferen Prozesse in der Gesellschaft sollte man sie dazuzählen:
die fragwürdige Jahrhunderttradition der deutschen Sozialpolitik.
Blue-Collar-Partner
Letztere fing bei Bismarck an. Der Kanzler mit ultrakonservati-
vem Denken – um das Zepter der Initiative aus der Hand der Lin-
ken zu reißen – hat selber das System staatlicher Fürsorge er-
richtet. Diese Tradition wurde auch vom Naziregime gepflegt. Für
die „Arier” baute man Arbeiterwohnungen mit Badezimmern, die
Arbeitslosigkeit verschwand, man hat mit ökonomischen Mitteln
einen relativen Warenreichtum erreicht, dutzende Kindergärten
und Krippen machten in den Außenbezirken Berlins ihre Toren
auf. Das Naziregime konnte größtenteils diesen Maßnahmen
seine anfängliche Popularität in der zweiten Hälfte der Dreißiger-
jahre verdanken. Nach dem Krieg fing man in beiden Staaten
an, eine umfassende Sozialpolitik umzusetzen. Die BRD, die die
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