Sonntagsblatt 2/2016 | Page 4

Gruppe der Ungarn erfolgte jedoch erst mit ihrer strukturellen Assimilation : es vollzog sich nach und nach eine Eingliederung , indem an ungarischen Organisationen , Institutionen wie Schule , Kirchengemeinde , Arbeitsplatz usw . partizipiert wurde .
Der vorhin erwähnte Handlungsplan der LdU beinhaltet Maßnahmen , die der Auflösung von Identitätsmerkmalen der deutschen Minderheit in Ungarn , also ihrer Assimilation , entgegensteuern können .
Zum Zweck der Bewahrung und Stärkung der Identität der Ungarndeutschen wird der Beherrschung und dem Gebrauch der deutschen Sprache eine wichtige Rolle beigemessen . Durch die Übernahme der Bildungseinrichtungen durch die LdU bzw . durch örtliche deutsche Nationalitätenselbstverwaltungen , durch die Förderung des Sprachunterrichts , durch die Optimierung der Bil - dungslandschaft , durch die Aus- und Weiterbildung von Fach - leuten für die Kulturpflege , durch die optimale Nutzung der Mög - lichkeiten einer de jure gegebenen kulturellen Autonomie , durch den Ausbau und die Professionalisierung der politischen Ver - tretung der deutschen Minderheit auf örtlicher , regionaler und landesweiter Ebene , durch die Intensivierung der internationalen Beziehungen , durch die Wahrnehmung und Nutzung unserer Brückenfunktion zwischen Ungarn und der Welt , durch proaktive Maßnahmen , die mit Hilfe der Medien über unsere Volksgruppe eine positive Attitüde sowohl intra- wie auch interethnisch entstehen lassen , durch solche und ähnliche Maßnahmen soll und kann die Assimilation der Deutschen in Ungarn aufgehalten und ihre Identität gestärkt werden .
Der wissenschaftliche Diskurs um den Begriff und um das Konzept der Identität wird in einer Reihe von geistes- , gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Disziplinen geführt . Als klassisches Beispiel für das Problem mit der diachronen Identität wird in Anlehnung an Thomas Hobbes ( 1655 ) das Schiff des Theseus vorgeführt . An diesem Schiff wird eine Planke nach der anderen erneuert , und obwohl schließlich alle originalen Planken durch neue ersetzt sind , bleibt es dasselbe Schiff . Setzte man aber die originalen Planken wieder zusammen , so würden zwei Schiffe vorliegen , die beide ein gutes Recht darauf hätten , mit dem Schiff des Theseus identisch zu sein . Dieses Paradox entsteht , wenn wir beim Austausch von nur einer einzigen Planke nicht annehmen , das Schiff hätte sich wesentlich verändert .
Analog dazu ist auch die Identität eines Menschen , also die Eigentümlichkeit seines Wesens keineswegs als etwas Starres oder Konstantes anzusehen . Im Gegenteil : Die Identität des Selbst bildet sich im gesellschaftlichen Prozess , d . h . in der Interaktion mit anderen Individuen , und unterliegt daher einem ständigen Entwicklungsprozess . Somit ist die Identität weder einheitlich noch kontinuierlich .
An dieser Stelle möchte ich mich auf die Ergebnisse einer Forschung beziehen , die ich vor einigen Jahren mit Studierenden durchgeführt habe : Im Rahmen der Empirie wurden narrative biographische Interviews geführt , mit Vertretern aus drei verschiedenen Generationen , die ungarndeutschen Familien angehörten . Unsere Frage war : Was bedeutet für Sie , ungarndeutsch zu sein ? Als relevante Motive für die Konstituierung der ethnischen Identität zeichneten sich bei der älteren Generation Verängs - tigung bzw . Angst , Einschüchterung bzw . Verheimlichung sowie Anschuldigung bzw . Schuldgefühl ab , die durch die erlebte Verschleppung , Vertreibung , Enteignung und andere Demüti -
Wir schreiben für SIE . Werben Sie für UNS ! Unterstützen Sie DAS SONNTAGSBLATT gungen sowie durch die nach 1945 in der ungarischen Öffentlichkeit vorherrschende und allgemein verbreitete Diskriminierung und Stigmatisierung der Deutschen hervorgerufen wurden . Ein weiteres Motiv war die Treue bzw . eine patriotische Haltung Ungarn gegenüber . Ich zitiere eine Probandin : „ Unser Name war deutsch . Magyarosíttattuk ( wir haben madjarisiert – die Red .). Wir wollten hier in Ungarn bleiben . Magyarnak kellett magunkat vallani ( Wir mußten uns als Madjaren bekennen . – die Red .). Meg kellett tagadnunk a származásunkat . ( Wir mußten unsere Ab - stammung verleugnen . Die Red .) […] Uns ist alles weggenommen worden : Haus , Besitz und das Dorf , wo wir lebten . Wir verkauften unseren Namen . Wieso ? Wir leben in Ungarn . Unsere Heimat konnten sie uns nicht wegnehmen .“
Die Erlebnisse der mittleren und jüngeren Generation waren nicht vergleichbar mit denen der älteren Generation . Das kollektive Gedächtnis der sog . Erlebnisgeneration erwies sich jedoch als rekonstruktiv , es beeinflusste die Identitätsbildung der nachkommenden Generationen . Ein Beispiel : Die vorhin zitierte Dame aus der älteren Generation wuchs in einem Dorf auf , wo Ungarisch und die deutsche Mundart parallel verwendet wurden . Als Deutschstämmige erlernte sie in ihrer Familie den deutschen Ortsdialekt als chronologisch erste Sprache . Der Unterricht und das Kirchenleben waren zweisprachig , so wurde sie während der sekundären Sozialisation bilingual . Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sie sich wegen dem Verbot des Deutschen einem starken Assimilationszwang ausgesetzt , deshalb brachte sie ihrer Tochter bewusst die ungarische Sprache als chronologische Erstsprache bei . Die Tochter ( 1947 ) aus der mittleren Generation erlebte die Mundart vor allem als Geheimsprache ihrer Eltern , die sie als Kleinkind eher passiv beherrschte , und sie schämte sich , wenn ihre Eltern vor ihren Freunden Mundart sprachen . Sie schämte sich auch wegen ihrer „ schwäbischen ” Abstammung und strebte bewusst eine möglichst schnelle Assimilation an . Heute bereut sie dieses Verhalten , erlebt ihre mangelhaften Deutschkenntnisse als Nachteil und macht wegen ihrer ungarischsprachigen Soziali - sation ihrer Mutter Vorwürfe . Ihre Tochter ( 1978 ) lernte auf Emp - fehlung der Mutter in der Schule Deutsch , sie wurde Deutsch - lehrerin . Im Gegensatz zur Mischehe ihrer Eltern hat sie einen Mann ungarndeutscher Abstammung geheiratet , denn für sie spielt die Abstammung eine wichtige Rolle . Sie erzieht ihre Kinder bewusst zweisprachig : Ungarisch und Hochdeutsch gelten als Familiensprache . Ihre Kinder sind bewusste Träger einer deutsch – ungarischen Doppelidentität .
Aus der Möglichkeit , Segmente der Identität situationsabhängig und zielgerichtet einsetzen zu können , ergibt sich die Frage , warum ein Individuum seine Ethnizität bekundet oder verleugnet , warum es Wert auf die Kultur- und Traditionspflege legt oder eher eine Distanzhaltung zeigt , warum es sich moralisch verpflichtet fühlt , die Sprache seiner Minderheit an seine Kinder weiterzugeben oder eher einer Modeerscheinung folgt und den Englisch - unterricht wählt . Als Stimulus können Momente aus seiner Biographie oder aus dem kollektiven Gedächtnis der Ethnie auftreten , die positiv oder negativ bewertet werden .
Für die Zukunft ist entscheidend , ob das „ Generationsge - dächtnis ” heutiger Jugendlicher durch positive oder negative Erfahrungen geprägt wird . Das liegt in unserer Verantwortung : in der Verantwortung der Eltern , der Pädagogen , der Minderhei - tenpolitiker , Journalisten , der Seelsorger und aller Akteure der Organisationen und Institutionen unserer Nationalität .
„ Handlung ist der grundlegende Schlüssel zu allen Erfol - gen ” – in diesem Sinne möchte ich mich dem Vorsitzenden der LdU , Herrn Otto Heinek anschließen , wenn er zur Strategie der LdU meint , Ziel ist natürlich , dass möglichst viele dahinterstehen .
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