Festrede
der Fünfkirchner Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutsch -
land, Dr. Susanna Gerner, auf der LANDESGALA 2016 der Un -
garndeutschen Selbstverwaltungen.
(Hier der volle Wortlaut – denn in der NZ vom 15. Januar waren
nur Auszüge gebracht worden. Es lohnt sich jedoch, die Rede in allen
Details genau zu lesen und über die Bedeutung der Aussagen von Frau
Gerner zu sinnieren. Sie zeugen von großer Aufrichtigkeit und Wahr -
heit. Sie sind eine Besonderheit im Vergleich zu den schablonenhaften
Äußerungen unserer ungarndeutschen Amtsträger.)
Festrednerin Dr. Zsuzsanna Gerner, Fünfkirchner Honorar -
konsulin der Bundesrepublik Deutschland, ging auf die Wich -
tigkeit der Pflege der Sprache ein und sprach über Assimilation
und Identitäten.
„Handlung ist der grundlegende
Schlüssel zu allen Erfolgen”
Es ist für mich eine Ehre, Sie zur Landesgala der Ungarn -
deutschen als Honorarkonsulin auch im Namen des Botschafters
der Bundesrepublik Deutschland in Budapest, des Schirmherrn
dieser Veranstaltung, Herrn Dr. Heinz-Peter Behr begrüßen zu
dürfen. Diese Ehre habe ich – wie ich meine – nicht zuletzt mei-
ner deutschen Abstammung, die ich mit ihnen teile, zu verdanken.
Beim Jahreswechsel ist es üblich, Bilanz zu ziehen, um darauf
aufbauend Pläne für die Zukunft schmieden zu können. Wie war
das Jahr 2015 aus der Sicht der Deutschen in Ungarn, und was
erhoffen wir uns im Jahr 2016? Lassen Sie mich zunächst – ohne
Anspruch auf Vollständigkeit – einige Ereignisse des vergangenen
Jahres kurz in Erinnerung rufen.
2015 war reich an Jubiläen: Vor 25 Jahren wurde der 3. Oktober
als Tag der Deutschen Einheit im Einigungsvertrag 1990 zum
gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt. Der Festredner
des Festaktes, Bundespräsident Joachim Gauck sagte am 3. Okto -
ber 2015: „Wie 1990 erwartet uns eine Herausforderung, die Ge -
nerationen beschäftigen wird.” Er wies damit natürlich auf die
Flüchtlingskrise hin und hob dabei hervor, dass erneut eine inne-
re Einheit zu erringen sei, diesmal eine Einheit zwischen
Menschen, die nicht dieselbe Sprache haben, nicht auf dieselbe
nationale Kultur und Geschichte zurückblicken, wie vor 25 Jahren
in den 45 Jahre lang voneinander getrennten Teilen Deutschlands.
Sein 25-jähriges Bestehen feierte das Fünfkirchner Lenau-
Haus: Der deutsche Gesandte Manfred P. Emmes sprach in sei-
ner Festrede von einem großen Gewinn für den gesamten
deutschsprachigen Raum, der Bürgermeister der „Stadt mit deut-
scher Prägung” – wie Herr Dr. Zsolt Páva Fünfkirchen bezeichne-
te – von guter Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung und
den Institutionen der deutschen Nationalität vor Ort.
Zu den Jubilaren zählte 2015 auch die Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen: Vor 20 Jahren, also im Jahr 1995, wurde
auf Basis des ungarischen Minderheitengesetzes 1993 erstmals die
Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen gewählt. Ebenfalls
vor 20 Jahren ist durch die Eröffnung des Kindergartens und der
Grundschule aus dem deutschsprachigen Gymnasium in Baaja/
Baja das erste komplexe Bildungszentrum der Ungarndeutschen
entstanden. Auch das Ungarndeutsche Forschungszentrum an der
ELTE feierte 2015 das 20. Jubiläum seines Bestehens, und der
Arbeitskreis ungarndeutscher Familienforscher blickte 2015 auf
eine bereits 15-jährige Vergangenheit zurück.
An Jubiläen wird es auch in diesem Jahr nicht fehlen; hervorhe-
ben möchte ich hier nur eins: anlässlich des 70. Jahrestages der
Vertreibung der Ungarndeutschen veranstalten die Landesselbst -
verwaltung der Ungarndeutschen, das Jakob-Bleyer-Heimatmu -
seum, der Stiftungslehrstuhl für Deutsche Geschichte und Kultur
im südöstlichen Mitteleuropa an der Universität Fünfkirchen
sowie die Konrad-Adenauer-Stiftung am Gedenktag, also am 19.
Januar, in Wudersch/Budaörs ein Symposium.
Neben den genannten und hier nicht erwähnten, traurigen und
erfreulichen Jahrestagen gab es 2015 auch sonstige, aus meiner
Sicht für uns wichtige Ereignisse, die ich ebenfalls ohne Anspruch
auf Vollständigkeit kurz hervorheben möchte.
Die Nationalitäten erhielten nach zwei Jahrzehnten bedeutende
Mehrbeträge aus dem Staatshaushalt. Dank der Vertretung der
Minderheiten im Parlament wurden auch bestimmte Gesetzes -
änderungen im Interesse der Nationalitäten angenommen.
Bereits 2014 begann die damals neu gewählte Landesselbst -
verwaltung der Ungarndeutschen an ihrer Strategie bis 2020 zu
arbeiten. Seit Ende November 2015 ist der vollständige Hand -
lungsplan bekannt, der künftig als Leitfaden für die Arbeit in den
Bereichen Politik, Kultur, Bildung, Jugend und Kommunikation
dienen soll. Das Hauptanliegen des Handlungsplanes ist, eine
aktive deutsche Nationalitätengemeinschaft und eine starke
Identität herauszubilden.
Die Flüchtlingswelle hat in vielen EU-Ländern Diskussionen
über die nationale Identität angespornt, so auch in Ungarn, in
einem Land, das im 18. Jahrhundert und auch in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts durch religiös, ethnisch, sprachlich, profes-
sionell und regional untergliederte politische Subkulturen gekenn-
zeichnet war. Jene moderne ungarische nationale Identität, auf
die heute Bezug genommen wird, ist im Ungarn des 19. Jahr -
hunderts entstanden, im Kontext einer parallelen Umwandlung
der politischen und der prädominierenden kulturellen Identi -
täten. Intellektuelle, die aus nichtprivilegierten Kreisen kamen,
bedienten sich damals der Aufwertung der ungarischen ethnokul-
turellen Tradition und Muttersprache, sie betrachteten Ungarisch
als kommunikativen Diskurs zum Ausdruck ihres Patriotismus,
ihrer Loyalität der ungarischen Nation gegenüber. „Weder Bluts -
verwandtschaft noch Erziehung, noch Klima oder Lebens weise
sind es, die eine Nation zur Nation machen, (…). Die Nation wird
einzig durch die Sprache geprägt.” Diesen 1822 aufgezeichneten
Gedanken eines B enediktiners namens Izidor Guzmics nahmen
sich Ferenc Kazinczy, Miklós Révai, Sándor Kisfaludy, József
Bajza, um nur einige von der kulturellen Elite des Landes zu
erwähnen, voll und ganz an. Sie glaubten daran, dass die sprachli-
che Assimilation das entsprechende Mittel sei, einen einheitlichen
ungarischen Nationalstaat zu gründen. Dabei betrug der Anteil
der ungarischen Muttersprachler an der Gesamtbevölkerung bei
der ersten Volkszählung 1880, wo man nach Muttersprache ge -
fragt hat, nur knappe 45%. Mehr als die Hälfte der Bevölke rung
des Landes gab eine andere Muttersprache an, 13% Deutsch, was
1,8 Millionen Menschen bedeutete. Eine zweisprachige Kompe -
tenz hatten damals 18% der Bewohner des Landes, Deutsch als
Zweitsprache wurde von 800 000 Personen angegeben. Deutsche
hatten damals zu 40% mehrsprachige Kompetenzen, während
Rumänen und Ruthenen z. B. noch zu 90% monoglossisch waren
und kein Ungarisch konnten. Angestrebt wurde die Auflösung
von Identitätsmerkmalen aller zahlenmäßig kleineren Gruppen in
der zahlenmäßig stärkeren Gruppe der Ungarn, also ihre
Assimilation.
Am Anfang jedes Assimilationsprozesses steht eine kulturelle
Assimilation, die die Aneignung der gemeinsamen Sprache und
grundlegender Verhaltensweisen der späteren Integrationsge -
sellschaft beinhaltet. Die kulturelle Assimilation der Deutschen in
Ungarn begann – wie vorhin erwähnt – in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Ihre Integration in die zahlenmäßig größere
(Fortsetzung auf Seite 4)
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