Sonntagsblatt 2/2016 | Page 17

deutsch tums und kam sogar in landsmännische Höhe, als er be - haup tete, wenn die Deutschen bei ihrer Vertreibung alles, womit sie das Land bereichert haben, mitgenommen hätten, wäre nicht viel übriggeblieben. Zugegeben, ich übertreibe ein wenig, aber nur ein wenig. Andererseits hat er – natürlich in einer kodierten Weise – die Potsdam-Lüge wiederholt, als er behauptete, bei einer starken, souveränen Regierung jener Zeit hätte die Vertreibung nicht pas- sieren können. Von hier ist es nicht schwer darauf zu kommen, dass eine starke, souveräne Regierung auch heutzutage der einzi- ge Garant für das Gemeinwohl und für die Vermeidung ähnlicher Tragödien ist. Nun, Herr Ministerpräsident, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Die schwersten, die unmenschlichsten Missbräuche, ja die grau- samsten Genozids der Menschheitsgeschichte von Hitler, Stalin, Mao bis Pol Pot wurden von „starken, souveränen Regierungen” begangen, teils gegen die eigene Bevölkerung oder ausgewählte Teile davon, teils gegenüber anderen Nationen. Sie irren sich, Herr Ministerpräsident, solche Tragödien können nur in rechtstaatlichen Demokratien vermieden werden, wo Meinungs- und Medienfreiheit herrscht, wo die staatliche Ord - nung die Alleinherrschaft einer Person bzw. einer Gruppe verhin- dert und dadurch die Umsetzung der Menschenrechte garantiert. Dass es bei uns nicht so ist, das wurde schon von der Intensität des Beifalls nach ihrer Rede demonstriert. Der tosende Applaus honorierte nicht ihre rhetorische Leistung, sondern war der Be - weis dafür, dass die Reflexe der längst vergessen geglaubten Rákosi-Zeit wieder lebendig wurden. Am Ende fehlten nur noch der „hoty folt” und das Vivat. Kommentar 2 Die „Potsdamer Legende” über die Vertreibung der Ungarndeut - schen wird hier von BZ eindeutig widerlegt und klargestellt. Es ist zum ersten Mal, dass eine Zeitung aus Ungarn dies wagt, trotz des Widerstandes nationalistischer ungarischer Historiker und Poli - tiker, die noch immer an ihrer Theorie festhalten und die Schuld der damaligen ungarischen Politik zurückweisen. NE O Damals – vor 70 Jahren Aus einem Vortrag von Dr. Agnes Tóth über die Vertreibung der Ungarndeutschen „…Erinnerung, Geschichte: zwei Begriffe, die bei weitem nicht die gleiche Bedeutung haben, wir müssen gar erkennen, dass sie absolute Gegenteile sind. Die Erinnerung ist das Leben selbst, was lebende Gruppen in sich tragen…. Die Geschichte hingegen ist immer problematisch und die vollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr existiert.” Die obigen Gedankenspiele, glaube ich, machen es eindeutig, dass auch ich einer Meinung mit den Feststellungen des französischen Historikers Pierre Nora bezüglich der unvollständigen Rekon - struktion der Geschichte bin. Ich erachte es aber als eine Über- treibung, dass er das Verhältnis zwischen Erinnerung und Ge - schichte als absolute Gegensätze beurteilt. Ich betrachte diese Begriffe eher als solche, die sich gegenseitig ergänzen, annehmen und erklären. Um meinen Standpunkt zu untermauern möchte ich Teile aus zwei ganz unterschiedlichen Dokumenten zitieren. Das eine Dokument ist der zusammenfassende Bericht von Gábor Péter, dem gefürchteten Parteiführer, zuständig für die Staatssicherheit, über die Vertreibung in Wudersch, die am 19. Januar 1946 be - gann, das andere sind die Erinnerungen eines betagten Schwaben, der aus Feked vertrieben wurde, aus Deutschland zurückkam, der dann erneut vertrieben wurde und der erneut nach Ungarn zu - rückkehrte. Sie beschreiben den gleichen Prozess, indem sie ge - gen seitig überhaupt nicht ausschließen, sondern vielmehr ergän- zen, erklären. „Die Vertreibung aus Wudersch – schreibt Gábor Péter am 26. Januar 1946 – ist seit drei Wochen im Gange, und es verließen bis- lang lediglich drei Züge das Dorf, … woraus man bereits den Schluss ziehen kann, dass diese in einem Desaster endete. Das ist auf drei Ursachen zurückzuführen: 1. auf die mangelnde Vor - bereitung, 2. auf die unbeherzte und planlose Umsetzung durch die Ministerialbeauftragtenstelle für Vertreibung, 3. auf das be - mit leidenswerte Verhalten der exekutiven Streitkräfte. … Der größte Schandfleck beim Wuderscher Umzug (kitelepü- lés, sic!) ist das Verhalten der Wachmannschaften. Die Polizis ten zeigen keine Disziplin, sie liegen besoffen in Kellern rum, verlas- sen nachts ihre Wachposten und gehen einen trinken. Wudersch ist nachts von den Schießereien von betrunkenen Polizisten laut. Die polizeiliche Umzingelung der Gemeinde ist auch nur theore- tisch vorhanden, und dann verlässt das Dorf nur derjenige nicht, der das erst gar nicht vorhat. Die Polizeiführer tolerieren diesen desolaten Zustand, sie zeigen weder Willen noch Bereitschaft um diesen zu ändern. Und da sind wir am Punkt angelangt, wo sich die Situation in Wudersch zu internationalen Verwerfungen füh- ren könnte. Es ist daher unverzüglich dahingehend zu verfügen, dass 1) die gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten der Ordnungs - hüter, die herzlos zu sein scheinen und ihre Pflicht nicht gera- de zu erfüllen in der Lage sind, unverzüglich abgelöst wer- den. 2) Die Truppen sind in Privathäusern, in den Häusern der Ver - triebenen untergebracht, wo sie plündern. Das ist dringlichst einzustellen. Die Truppe ist in ein–zwei größeren öffentli- chen Gebäuden z. B. Schulen unterzubringen, wo man sie besser kontrollieren kann. 3) Die plündernden Polizisten sind vors Militärgericht zu stel- len. 4) Die Polizeioffiziere erhalten besondere und bessere Versor - gung als die Truppe. Das ist unverzüglich einzustellen. 5) Den doppelten Lohn muss man während des Einsatzes der Polizei tatsächlich aushändigen. 6) Die Polizeimannschaft ist personell an sich nicht schlecht, wäre sie aber in besseren Händen – denn es ist eine ausge- wählte Truppe. Man müsste sich mit ihnen auch politisch beschäftigen: Die Politgruppe oder andere müssten Vorträge über die schädliche Rolle des Volksbunds, des hiesigen Schwabentums, der „Fünften Kolonne” im Leben unserer Nation halten. Die politische Aufklärung würde der Frater - nalisierung zuvorkommen, die in der Truppe in Richtung Schwaben bereits zu beobachten ist und was unumkehrbar in Korruption mündet. (Gábor Péter, 26. Januar 1946) „Nachts kamen sie, gegen eins–zwei Uhr, sie haben die Tür ein- gebrochen, so kamen sie rein. Die telepesek (Neusiedler), die aus der Nähe von Pest hierher verschleppt wurden, begannen den Zirkus. Einer von ihnen ging in die Speisekammer, hat ein Stück Schinken abgehängt, warf es auf den Tisch und sagte: „Esst aus diesem Schwabenschinken!” Und da stand ein Liter Wein, dann fragte er: „Was ist das?” Ich sagte: „Wein.” „Darf man daraus trin- ken?” Ich sagte: „Man darf”. Dann musste ich zuerst trinken, nicht dass er vergiftet ist. Meine betagten Eltern waren an die 70, (Fortsetzung auf Seite 18) 17