setzungen gegeben. Diese Kulturen haben sich eher ineinander eingefügt, einander bereichert.”
In der darauf folgenden Aufzählung können wir jedoch ausschließlich darüber lesen, wie die hier lebenden Minderheiten der Bereicherung der ungarischen Kultur gedient haben. Doch müssen wir diese Frage freilich auch aus der anderen Richtung stellen: Was hat den hier lebenden Minderheiten das Zusammenleben mit den Madjaren bedeutet? Genauer: Wo befindet sich heute dieser Verlauf, ein Vierteljahrhundert nach der politischen Wende? Die Mitglieder der von Györgyi Bindorffer geleiteten Forschergruppe suchen – auf ganz allgemeiner Stufe – die Antwort auf diese Frage. Diese Forschung ist eigentlich die Ausweitung jener sehr erfolgreichen Arbeit, die in dem früheren Band „ Doppelidentität: ethnisches und nationales Selbstbewusstsein in Dunabogdány” von Györgyi Bindorffer dargeboten wird. Auch schon in diesem Buch ist der Grundgedanke der jetzigen Forschung vorhanden: Die Lage der jetzt in Ungarn lebenden Minderheiten könnte am ehesten mit dem Begriff „ Doppelidentität” gekennzeichnet werden. „ Die Doppelidentität ist solch eine Identitätsform, in welcher die in einem mehrheitlich dominanten Land lebende Minderheit neben der Erhaltung und Repräsentation der eigenen ethnischen Identität sich jene Elemente der Identität des Mehrheitsvolkes zu Eigen macht, die aus dem Elementenschatz der eigenen ethnischen Identität fehlen”. Diese Begriffschaffung versucht die Ge- sichtspunkte der Soziologie und der kulturellen Anthropologie zu vereinen. Die Studien des erwähnten Buches halten sich jedoch nicht an diese disziplinare Festlegung: Fast in jeder Schrift stoßen wir auf kürzere – längere geschichtliche und volkskundliche Ana- lysen. Und gleichzeitig erscheint solch ein ausgesprochen soziologischer Begriff, der in Konkurrenz steht zur Doppelidentität: u. z. der Begriff Assimilation. Sándor Horváth nimmt dazu als Beispiel die Geschichte der Kroaten von Grádistye, indem er ausgesprochen die verschiedenen Tendenzen der Assimilation behandelt( Mischehen, Umgestaltung der Arbeitssituationen, Ausbau des Schulsystems, die Rolle der Kirche und die Erscheinung und Raum gewinnung der Presse). Der Begriff Assimilation verfügt jedoch im genannten Band über nicht genügend scharfe Kontu- ren: Die Verfasser sprechen öfters über „ natürliche Assimilation”, sogar ab und zu taucht auch der Begriff „ Integration” auf. Meiner Meinung nach sollte man unbedingt unterscheiden zwischen Assi- milation und Integration. Mit Integration werden von der Mehr- heit den Mitgliedern der Minderheit Möglichkeiten zugesichert auf den Gebieten Selbstfortkommen und Gestaltung der eigenen Lebensform. Bei Assimilation aber missbraucht die Mehrheit die eigene Übermacht, u. z. in der Weise, dass sie die eigenen Werte, kulturellen Normen und Benehmensbräuche der Minderheit mit Gewalt aufzwingt. Dieser Begriffsrahmen würde die Festlegung verhältnismäßig eindeutiger kritischer Maßstäbe zur Analyse ermöglichen.
Demgegenüber erbringt das Studium der Minderheitenidentität eine zweischneidige Beurteilung. Einerseits könnten wir sagen, es gibt kein größeres Problem, insgesamt ist ja nur von der Aus- gestaltung einer neuen „ Identitätsform” die Rede. Das entscheidende Moment dieser Identitätsform ist die eindeutige Verdrän- gung der ursprünglichen Dialekte und örtlichen Mundarten der Minderheiten. „ Die Mitglieder der jüngeren Generationen sprechen ausnahmslos besser Ungarisch, infolge der Sozialisation liegt ihr Wissensstoff auf der Basis der ungarischen Kultur”. Diese Feststellung ergänzt Bindorffer, das Leben eines deutschen Dor- fes in der Branau( Wemend) erforschend, mit einer interessanten Bemerkung: Je mehr der Dialekt aus der Kommunikation des All- tags schwindet, umso lieber reden die Menschen von der Wich- tigkeit der Muttersprache. Das Ergebnis ist nun folgendes: „ Muttersprachliche Identität ohne Kenntnis der Muttersprache”.
Gleichzeitig – und damit eng zusammenhängend – sind die eigentümlichen Berufe und die im Minderheitendasein verankerten Bräuche aus dem Leben der Minderheiten verschwunden. Unter solchen Umständen( in der Zeit nach der politischen Wende) ist das maßgebende Element der Minderheitenkultur – bei allen Minderheiten – die Pflege der Kultur: Feierlichkeiten, verschiedene Veranstaltungen, „ Folklorwettstreite u. a. Gesang, Musik und Tanz, sind als ernsthafte Identitätselemente zu betrachten; die kulturellen Bräuche bedeuten das stärkste Gemeinschaftsbinde- glied”. Dies könnten wir auch so auffassen, dass die Minderhei- ten kulturen sich museumalisierten; noch gibt es sie, dennoch sind sie nicht vorhanden. Unter solchen Umständen sind die Min- derheiten-Selbstverwaltungen auf die Bühne getreten. Über sie schreiben alle Verfasser des Buches positiv, dennoch meine ich, dass auch sie sehr gut wissen, dass die erstrangige Aufgabe der Selbstverwaltungen die Verwaltung dieser entwurzelten Kultur sei. Andernteils merkt der Leser eindeutig, dass auch die Verfas- ser öfters zur Schwelle jener Einsicht gelangen, dass sie in Wirk- lichkeit nicht über eine neue Identitätsform, sondern viel mehr über den Verlust der Identität sprechen müssten. Von den Ver- fassern war es allein Orsolya Szabó, die – im Titel ihrer Studie – neben der Doppelidentität ein Fragezeichen angebracht hat. Man könnte meinen, dass bei Verlust der Muttersprache und bei Entwicklung einer museumalisiert Kultur die Existenz auf weiter Sicht unmöglich sein wird. Damit gelangen wir zu einem solchen Ergebnis, dass von zahlreichen Interviewsubjekten auch wirklich angesprochen wurde, wovon sich die Verfasser jedoch allgemein fernhalten wollten. „ Untereinander reden wir nicht mehr schwäbisch. Ich möchte, dass meine Mutter mit meinem Kind schwäbisch rede …, denn wenn die über sechzig Jahre alte Generation ausstirbt, wird niemand mehr so reden. Nach zwanzig Jahren wird man dann entdecken, ach, da ist eine Kultur ausgestorben”.
Die Leistung der Minderheiten-Kulturen ist allgemein niedriger als die des Mehrheitsvolkes, weil sie sich in einem eigenartigen Ghetto befinden, wobei ein sozusagen innerer, archaisierender Druck sich auf sie legt. In der Debatte über den Multikulturalis- mus hat Charles Taylor jenen Gedanken verfasst, dass trotz allem jede Kultur über eine bestimmte Würde verfügt, von welcher ausgehend sie Recht zum Fortbestand hat. Und schließlich wäre es angebracht zur Kenntnis zu bringen: Dies ist auch elementares Interesse der Mehrheitskultur, wenn sie existieren möchte, auch nach zwanzig Jahren noch.
Thema: Zur Lage der nationalen Minderheiten in Ungarn
„ Liebe Freunde, einerseits meine ich, dass in der Minderheitenpolitik dringend eine Wende nötig wäre. Wenn ich auch immer mit Vorbehalt auf den apokalyptischen Ton in der Diskussion um die Minderheiten schaue.( Wir sind immer in der 24. Stunde usw.) Manchmal meine ich aber, dass die Behauptung jetzt und in unserem Zusammenhang trotzdem stimmt. Andererseits fürchte ich sehr oft, dass auch die 24. Stunde schon vorbei ist. Es wird nur noch der totale Niedergang verwaltet. Es ist traurig: Viele Leute haben dadurch und dafür Stellen usw.
Wenn ich über die Ursachen nachdenke, dann sind es vor allem fünf Ereignisse der letzten 25 Jahren, die die Situation dermaßen verschlechtert haben …
1) Die Verfassungsänderung der Bundesrepublik im Jahre 1993 hat die symbolischen Beziehungen zu den Ungarndeutschen fast ganz gekündigt.
2) Das ungarische Minderheitengesetz war eine geniale Scheinlösung, und wie schwer war das zu übersehen. 3) Die deutsche Minderheit in Ungarn hat sich nach 2006 immer
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