Sonntagsblatt 1/2021 | Page 27

Mutsching / Mucsi in der Tolnau . Es gibt viele Diphtonge . … Die Identität war eine Selbstverständlichkeit , sie war nicht musealisiert . Am Anfang ist weniger , dann aber immer mehr vom „ Früher “ gesprochen worden , von der Kriegs- und der Nachkriegszeit , von der Aussiedlung , vom Volksbund , von der Verantwortung , über die Funktionäre des Volksbundes , über die Leute , die bei der Aussiedlung mitgewirkt haben … Ungarisch habe ich ein bisschen vor der Schule gelernt , als ich in Fünfkirchen im Krankenhaus lag , und dann in der Schule , da war es ein Zwang .
SB : 1972 hast du die Mittelschule für Handel in Fünfkirchen begonnen . Fiel dir der Wechsel aus dem kleinen Dorf in die Großstadt schwer ? War dein ungarndeutscher Hintergrund eher von Vor- oder Nachteil während deiner Jahre in der Mittelschule ?
JW : Der Wechsel hat mir eigentlich nicht so viel ausgemacht , weil ich wegen meiner Krankheit schon viel in Fünfkirchen war und ich habe mich dort gut ausgekannt . Ich war in einem Internat , das war schrecklich , aber sonst habe ich mich da sehr gut gefühlt ; ich war sehr gut in der Schule und habe ziemlich gut Fußball gespielt . Das waren die letzten Blütejahre der Fachmittelschulen : Ich habe eine Ungarischlehrerin gehabt , die unmittelbar nach dem Krieg bei dem weltberühmten Philosophen Georg Lukács studiert hat , einen Sportlehrer , der eine olympische Bronzemedaille gewonnen hat , und einen ausgezeichneten Mathelehrer , der schon in der Rente war und früher an der Hochschule gearbeitet hatte … Diese Zeit bedeutete aber einen großen Schritt in die Richtung der Assimilation . Wir haben nur noch ungarisch gesprochen , es hat mich überhaupt nicht mehr interessiert , wer deutsch ist und wer nicht . Es gab kleinere oder größere Belästigungen : Meine Lehrerin , der ich übrigens sehr viel zu verdanken habe , hat uns öfter vorgeworfen , wir werden nie ordentlich ungarisch sprechen können . Es ergab sich einmal , dass ich die Festrede für den 15 . März schreiben musste , es ist mir aber nicht wirklich gut gelungen . Und dann kam die Behauptung , fast wie eine Entschuldigung : Sie habe nicht daran gedacht , dass ich mich mit diesem Fest identifizieren könnte . … aber von einer systematischen Benachteiligung kann man nicht sprechen . Vorteil ein Deutscher zu sein war es aber auf keinen Fall .
SB : Nach dem Abschluss der Mittelschule hast du Wirtschafswissenschaften in Fünfkirchen und Philosophie in Budapest studiert . Wie kam es zu diesen beiden Fachbereichen ? Was hat dich dazu bewegt nach dem Abschluss in Ökonomie noch einmal Student zu werden ? An welcher der beiden Universitäten hast du dich wohler gefühlt ?
JW : Die Frage scheint einfach zu sein , ist aber gar nicht so einfach . Zu meiner Zeit sind nur sechs Prozent von einer Generation zum Studium zugelassen worden , man musste da schon sehr gut sein . Ich war Schüler an einer Fachmittelschule für Handel , was soll man von da ausgehend studieren können ?! Anfang der siebziger Jahre ist in Fünfkirchen die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität gegründet worden . Studenten sind in unsere Schule gekommen , sie haben Schüler rekrutiert , es gab Vorbereitungskurse . Das hat mich total fasziniert , ich habe da , als 17- und 18-Jähriger mit großer Begeisterung teilgenommen . Da habe ich meine ersten Wettbewerbe in Mathe gewonnen usw . … Meine Eltern haben immer gesagt , es ist ganz egal , was ihr studiert - ich habe einen Bruder , der Mathe-Professor in Budapest ist- , nur mit dem Deutschtum darf es nichts zu tun haben . Schon in den ersten Wochen an der Uni habe ich es bemerkt , dass das Ganze an mir vorbeigeht , vorbeigehen wird . Formal habe ich aber sehr gut gelernt , war in einem Mathe-Spezialkurs , das ging so . Ich war ungefähr 20 Jahre alt , als mir schon klar war , dass ich mich am liebsten mit der Philosophie beschäftigen möchte . Ich habe in Wirtschaft einen Abschluss gemacht , es war aber nicht möglich zu dieser Zeit ein zweites Studium zu machen . Das will ich jetzt aber nicht ausführen . … In Fünfkirchen war ich richtig Student , obwohl ich mich sehr zurückgezogen habe , und habe sehr viel gelesen und allerlei Sachen studiert , auch die ganzen Sommer durch , jeden Tag 14 Stunden netto . In Budapest war es anders , man konnte sich wundern : Meine Lehrer schrieben Bücher .
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SB : Du warst auch oft in Deutschland . Was war die Motivation dafür deine wissenschaftliche Arbeit in der Bundesrepublik weiterzuführen ? Wie war dein Eindruck von Deutschland , aus der Perspektive deiner Identität . Hat man dich als Ungarndeutschen wahrgenommen oder warst du “ Magyare ” in Deutschland ?
JW : Ich habe in Ungarn in den 80ern ständig große Probleme gehabt . Ich war arbeitslos , was zu dieser Zeit strafbar war , dann kam die Umgestaltung der Pädagogischen Hochschule zu einer Universität , es sollte sogar eine Philosophische Fakultät geben . Da bin ich aber nicht genommen worden , weil ich nie in der Partei , aber auch nicht in den Jugendorganisationen drin war . Es gehört zur Wahrheit , dass ich kaum gefragt wurde , weil ich überall rechtzeitig erzählt habe , dass die Hälfte meiner Familie mütterlicherseits in den russischen Arbeitslagern umgekommen ist . Sagen wir so , Mitte der 80er , nach dem Zweitstudium , waren für mich in Ungarn wieder alle Tore zu . Ich musste gehen . Es dauerte eine gewisse Zeit , bis ich das organisiert habe , was wiederum sehr abenteuerlich war , heute kaum noch vorstellbar . Anfang 1988 habe ich dann mit einem PhD-Studium bei Prof . Jürgen Habermas begonnen … Deutschland , die deutsche Universität hat eine große Herausforderung für mich bedeutet . In Ungarn gab es keine Bücher , beim Lehrstoff hinkte man 50-70 Jahre hinterher . Ich musste sehr angestrengt arbeiten , praktisch Tag und Nacht . … Ich bin als Auslandsdeutscher akzeptiert worden ; aber dazu musste ich ständig sagen , ich komme zwar aus Ungarn , bin aber kein Ungar , sprich „ Madjare “, meine Großeltern ( die väterlicherseits zu dieser Zeit noch lebten ), können nicht einmal ungarisch sprechen usw . … Im Frühjahr 1988 ist einmal Ágnes Heller zu einem Gasvortrag aus New York nach Frankfurt gekommen , dort habe ich sie kennen gelernt . Wir haben uns unterhalten und sie hat mich nicht gefragt : „ Sind sie ein Madjare ?“, sondern „ kommen Sie aus Ungarn ?“ Dafür war ich sehr dankbar und sie wurde zu einer meiner besten Freundinnen ..
SB : Laut deiner Biografie beschäftigst du dich mit der Frankfurter Schule . Kannst du unseren Lesern erklären , was das bedeutet ? Welche sind die Themenfelder , die dir am meisten am Herzen liegen ?
JW : Die Frankfurter Schule ist eine philosophische-sozialwissenschaftliche Schule , die in den 1920er / 1930er Jahren gegründet wurde . Deren Zentrum war das Institut für Sozialforschung , das bis heute existiert . Ursprünglich ging es darum , was eine „ kritische Haltung “ gegenüber der Gesellschaft bedeutet und wie eine solche möglich ist . Welche gesellschaftlichen und kognitiven Bedingungen gibt es dafür ? Warum schwindet die „ kritische Haltung “ in den zwanziger Jahren und hängt das mit der Entstehung des Nationalsozialismus zusammen ? Auf jeden Fall ist das Stichwort der Schule die „ kritische Theorie “. … Diese Theorie hat dann ihre Blütenzeit in den Sechzigern , in den Jahren der Studentenbewegung gehabt . Später kamen eine zweite und dann noch eine dritte Generation dazu , immer mit großangelegten theoretischen Programmen . Die Frage blieb aber gleich : Wie ist eine kritische Theorie als menschliches Verhalten möglich ? Und wie kann so ein Verhalten gefördert werden ?
SB : Welchen Einfluss hat deine Identität auf deine Arbeit ? Kann man Identität von der Arbeit als Philosoph trennen oder ist sie ein inseparabler Teil dieser ?
JW : Die Geisteswissenschaften haben immer einen intensiveren Bezug zur eigenen Persönlichkeit als die Naturwissenschaften . Wenn hinter meiner Arbeit , meinen Vorlesungen , Vorträgen , Büchern eine gewisse Identität steckt , dann ist es eine deutsche und keine ungarndeutsche Identität .
SB : Du unterrichtest an der Universität in Fünfkirchen , bist Redaktionsmitglied der “ Ungarischen Philosophischen Rundschau ” ( Magyar Filozófiai Szemle ), du hast bereits 20 Doktoranden betreut und warst auch Vorsitzender der „ Ungarischen Philosophischen Gesellschaft “ ( Magyar Filozófiai Társaság ), du bist Professor und übersetzt auch Werke aus
( Fortsetzung auf Seite 28 )
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