Sonntagsblatt 1/2020 | Page 24

ist das Weingut der Familie auf 13,5 Hektar angewachsen. Darü- ber hinaus besitzt die Familie 1,9 Hektar Boden in Kalasch, den er im Zuge der Wiedergutmachung Anfang der Neunziger gegen Wiedergutmachungsscheine erworben hat, und 42 Hektar in Ta- rian/Tarján. Mit der Erweiterung des Familienbesitzes ging auch ein Ausbau des Betriebs einher: Zu den bestehenden Gebäuden kamen unter anderem eine 200 m2 große Küche und diverse Weinproduktionsräume im Kellerbereich hinzu - nach eigenen Angaben finanziert aus Eigenmitteln und später aus Fördergel- dern. Den Eigentümern liege sehr viel daran, die Familientradition in Produkte umzumünzen – das sagt bereits der Juniorchef und meint damit, dass man sich bemühe, traditionelle schwäbische Speisen wie Sauerkraut und Schinken, die man früher auch schon selber produziert habe, auf den Teller zu bringen. Man wolle dabei professionell arbeiten. Schinken und Wurstprodukte kämen aus der Eigenproduktion, genauso die Getränke, Frucht- säfte ohne Konservierungsstoffe, die die Erfrischungsgetränke der Massenproduktion verdrängt hätten: „Wir verkaufen 95 % eigene Fruchtsäfte und nur 5 % Coca Cola”, berichtet Konrad Schieszl jun. stolz. Neben Küche, Keller und Weinbau ist Ca- tering das vierte Standbein: Man veranstalte vor Ort und auch außerhalb Hochzeiten. Dabei kämen neben den 30 Festange- stellten noch Aushilfskräfte dazu. Apropos Arbeitskräfte: Wie anderenorts leide auch dieser Familienbetrieb unter Arbeitskräf- temangel, was zu steigenden Löhnen in den vergangenen Jah- ren geführt habe, so dass die Mitarbeiter je nach Position heute 200.000 bis 500.000 Forint (600 bis 1500 Euro) netto im Monat verdienen würden - Löhne, die aber nicht immer motivierend wir- ken würden, denn heute sei erste Priorität die Bequemlichkeit, so die Inhaber einhellig. Der Juniorchef beschrieb die Mehrwert- steuersenkung von 27 auf 5 % (was einer tatsächlichen Senkung von 18 % entsprach) und Steuererleichterungen im Rahmen der Kleingewerbebesteuerung (KIVA) als hilfreich, um die Löhne der Mitarbeiter zu erhöhen. Der Familienbetrieb habe seit 2001 stets hohe Zuwachsraten beim Umsatz erzielt, die Spanne reiche nach Angaben des Juniorchefs von vier bis 27 %. Ein Teil dieses Geldes fließe wieder in Investitionen: So plant man gerade aus EU-Fördermitteln den Aufbau einer neuen Flaschenabfüllanlage und aus eigenen Mitteln einen Veranstaltungsraum. Das Wachstum erfordere aber, dass man Produkte anbiete, hin- ter denen eine Philosophie stecke. Wenn jemand zweifele, ob er zu Hause eine Fischsuppe für die Familie kochen soll, dann würde in solchen Fällen der Juniorchef entgegnen: Nein, man möge die Zeit lieber in Familiengespräche investieren und den Rest den Schieszls überlassen – ein Kalkül, was aufzugehen scheint: Denn in solchen Fällen würden die Anrufer gleich sechs Portionen bestellen. Nach Überzeugung des Juniorchefs könne der Betrieb durch das Gefühl der Häuslichkeit punkten, gerade bei den Stammkunden: Weißwein, Schinken und Weißbrot sei- en einfache Gerichte, aber würden in Handarbeit gefertigt, was auch eine Kundschaft mit gehobenen Ansprüchen schätze, gera- de wenn vom Chef persönlich serviert wird. Maßvoll zu sein und Ausdauer zu haben – Charaktereigen- schaften, die für den Juniorchef als typisch schwäbische bzw. deutsche Tugenden gelten. Er ist nach eigenen Angaben im Vergleich zu seinem 79-jährigen Vater zwar in einem anderen Umfeld aufgewachsen: Die deutsche Sprache sei in der Fami- lie nicht mehr präsent gewesen. Dennoch spricht er wie Ehefrau und Kinder die Sprache der Ahnen (er arbeitete eine Zeit lang als Skilehrer in Österreich) und ihm liege sehr viel an der Pfle- ge der Traditionen, jedenfalls im gastronomischen Sinne. Sein Vater, „ein schwäbischer Dickschädel”, wie er zu sagen pflegt, habe zu Hause noch die Mundart gesprochen, dennoch habe das ungarischsprachige Umfeld in einer Gemeinde, aus der fast alle Deutschen vertrieben worden waren, stark abgefärbt. Als er 1965 die westdeutschen Verwandten in Baden-Württemberg 24 zum ersten Mal besuchen durfte, verstand er alles, habe aber Probleme beim Sprechen gehabt. Dies habe sich aber nach zwei Monaten Arbeit beim Anlagenbauer Nägele in Esslingen gelegt – hier habe ihm ein Ungar, der 1956 nach Westdeutschland ge- flohen war, auf die Sprünge geholfen. Seine Sprachkenntnisse habe er dann auch dank der DDR-Gäste in der Schänke gefes- tigt, die an manchen Tagen 90% der Kundschaft ausgemacht hätten. In Kalasch selbst habe er immer weniger Möglichkeiten die Sprache zu sprechen: Es gebe nur noch wenige, die von zu Hause aus deutsch sprächen, auch die vielen Mischehen täten ihr Übriges. Auf dem Gebiet der Pflege der Kultur gebe es viele Aktive und auch alle vier Fronleichnamskapellen würden Schwa- ben betreuen, aber bereits bei der Sprache der Liturgie höre die Traditionspflege auf: Die Messen werden in Ungarisch gehalten. Die Gemeinde ist in den letzten Jahren enorm gewachsen: Wäh- rend sie Ende der 1940er Jahre 2700 Seelen zählte, beträgt die Einwohnerzahl heute etwa 12.500. Vor der Vertreibung stellten die Deutschen die Hälfte der Bevölkerung, die Serben 35-40%. Eine Entwicklung, die zum einen Herausforderung, zum anderen eine Chance darstellt: Schwabensein, das deutsche Erbe be- wahren in Zeiten ständiger Veränderung. Dies bedarf viel Flexibi- lität und Kreativität – die fast 125-jährige Familientradition zeugt ohne Zweifel vom Erfolg dieser Bemühungen. Ansichten - Einsichten s Ein Vierteljahrhundert LdU Ein sehr subjektiver Rückblick Von Dr. Jenő Kaltenbach Ehrlich gesagt habe ich gar nicht daran gedacht, aber wurde da- ran erinnert, dass es in zirka drei Monaten, ganz genau am 11. März 2020, zum 25. Jahrestag der Gründung der Landesselbst- verwaltung der Ungarndeutschen kommen wird, deren Grün- dungsvorsitzender ich war. Nun, es wird ein ziemlich subjektiver Rückblick werden – einer- seits, weil ich gar nicht daran glaube, dass es eine objektive Geschichtsschreibung gibt. Die Rekonstruktion der Gescheh- nisse ist schon deshalb unmöglich, weil die Sicht des Betrach- ters immer die entscheidende Rolle spielt. Kriminalpolizisten und Staatsanwälte können ein Lied davon singen, dass selbst die Ta- ten von gestern schwer rekonstruierbar sind, geschweige denn solche, die Jahre – Jahrzehnte - zurückliegen. Andererseits habe ich auch nicht den Anspruch objektiv zu sein. Meine Gefühle, Erlebnisse sind für mich real, aber nicht unbe- dingt für andere. Also, dann leg‘ ich einfach ´mal los. Es begann damit, dass der traditionelle ungarische Nationalis- mus, der in der Kádár-Ära unterdrückt worden war, nach der Wende wieder hoffähig wurde - im Kern mit dem Trianon-Trau- ma, das endlich wieder ausgelebt werden konnte. Ein wesentli- cher Bestandteil der ungarischen Politik war und ist bis heute die Wiedervereinigung der Nation, das heißt, die sog. Ungarn jen- seits der Grenze, also die ungarischen Minderheiten der Nach- barstaaten rückten in die Mitte der Politik. Dieser Politik konnte man aber nur Glaubwürdigkeit verleihen, wenn Ungarn sich auch für die Rechte der im Land lebenden Minderheiten einsetzt. Alles in allem, es begann ein mühsamer Verhandlungsmara- thon zwischen der ungarischen Regierung und dem sog. Run- den Tisch der Minderheiten, eine Art Dachorganisation, in der SoNNTAGSBLATT