Sonntagsblatt 1/2020 | Page 17

einer festen 67er Basis, also auf dem Grund des 1867er Aus- gleiches mit Österreich. Die Opposition bildeten die Linken, mehrheitlich die Sozialdemokraten, sowie die entschiedenen Beförderer der Unabhängigkeitspolitik, die auf dem Boden der Trennung des Landes von Österreich standen und den Namen „Függetlenségi és Negyvennyolcas Párt” [Unabhängikkeits- und Achtundvierzigerpartei] trugen. Mit der Namenswahl wurde an die 1848er Gesetze angeknüpft, in denen die Dynastie Ungarn zum unabhängigen Staat erklärte, wobei die Gemeinsamkeit mit Österreich nur in der Person des Herrschers bestand (Personal- union). Eine Abgeordnetengruppe stellte später auch diese Per- sonalunion in Abrede und forderte die absolute Unabhängigkeit Ungarns. Befürworter dieser Partei befanden sich nicht nur unter den Mitgliedern des unteren Klerus, sondern auch unter den Bi- schöfen, Äbten, Prälaten, Pfarrleiter in größeren Städten. Eine andere Sache ist es, dass sie darüber tief schwiegen. Solche Verhältnisse herrschten, als der Erste Weltkrieg aus- brach. Der Krieg verbarg in sich eine grundlegende außenpoliti- sche Umgestaltung, sogar eine vollkommene Umzeichnung der osteuropäischen Landkarte. Im Falle einer Niederlage würde das Habsburgerreich zerstückelt und die Russen würden die Initia- tive übernehmen, um ein slawisch orientierte Großreich zu be- gründen – so die Prognose. Dieser vermutete Kriegsausgang war ein Alptraum für jeden, dem die im Ungarischen Königreich bestehende ungarische Suprematie am Herzen lag. Knapp, aber die Befürworter der Aufrechterhaltung der ungarischen Oberho- heit bildeten die zahlreichste demographische Gruppe unter der Bevölkerung, die mehr als 20 Millionen ausmachte. Für die Vormachtstellung der Habsburger Monarchie als katho- lische Monarchie Blut zu vergießen schien also am Anfang des Krieges eine patriotische Tat zu sein. Die ungarische und die ös- terreichische katholische Kirche hatte im Habsburgerreiche Ver- bündete und schon in den ersten Tagen der Kriegsereignisse wa- ren gewisse Kalkulationen, Memoranden, Aufsätze, Prognosen, Studien für politische und militärische Benutzung geboren, in denen erörtert wurde, mit welchen Volksgruppen, Gesellschafts- schichten, Berufsgruppen im Reiche als Helfer oder mindestens als Helfershelfer und mit welchen als feindselige Elemente man rechnen könnte. Den voraussichtlichen Ablauf des Krieges zeig- te in dieser Hinsicht eines der positivsten Bilder die polnische Na- tion auf. Leopold von Andrian, Generalkonsul der Donaumonar- chie in Warschau vor Juli 1914 schrieb: „Wir alle .wissen, welche moralischen und diplomatischen Erfolge Russland im Laufe der letzten Jahrhunderte durch Ausspielen seiner Stellung als ortho- doxe Vormacht zu erlangen wusste. Fern sei mir, der ich über- zeugt bin, dass wir im Inneren nicht nur allen Nationen, sondern auch allen Religionen eine freie und ehrenvolle Existenz sichern müssen, eine der russischen auch nur ähnliche Kirchenpolitik in Österreich–Ungarn zu präkonisieren. Dies war also feierlich zu offenbaren, damit man Österreich– Ungarns Souveränität auch seitens der katholischen Kirche in Schutz nehme. Die Gefahr eines russischen Vorstoßes in Mittel- europa wurde ein paar Jahre nach 1900 immer größer. Die öster- reichisch–ungarische Aktivität im Balkan und die Annexionskrise von 1908 verschärfte das Verhältnis zwischen den zwei Kaiser- reichen. Die Einordnung in diese Rivalität wurde von der außen- politischen Leitung von jedem Subsystem des Staatswesens ver- langt und auch die katholische Kirche bildete diesbezüglich keine Ausnahme. In diesem Falle gegen die Orthodoxie das Bollwerk der römischen Religion einzusetzen. Aber wie wäre es vorstell- bar gewesen, wenn ein Großteil des einzelnen in Nationalkirchen zerstückelten Klerus etwas anderes hätte machen wollen, den Erfordernissen der nationalen Interessen zu genügen. Die Vor- schläge der Staatslenkung waren streng, aber die Rechnung ging nicht ganz auf. Andrian schrieb: „Das darf uns aber nicht hindern, uns darüber klar zu werden, dass nach den Traditionen des Allerhöchsten Herrscherhauses und den – trotzdem von In- toleranz weit entfernten – Überregungen der Mehrheit unserer SoNNTAGSBLATT Bevölkerung wir förmlich darauf gestoßen werden, nach außen hin die Politik der katholischen Vormacht zu machen.” Es passte in das Außenpolitische sehr gut und stand mit den Kriegszielen der Monarchie im Einklang: der Hauptfeind der Zen- tralmächte war bekanntlich das katholische Frankreich, und nach einem siegreichen Krieg würde Frankreich seinem Übergewicht als Großmacht beraubt. Um es auf die Spitze zu treiben: „Nach einem möglichen Sturze Frankreichs aus der Stellung einer Großmacht ersten Ranges infolge des jetzigen Krieges wäre die Übernahme der Stellung als katholische Vormacht durch Öster- reich–Ungarn noch naheliegender, wie bisher.” Das von Leopold Andrian zu Ende 1914 angefertigte Memorandum galt als „nur eine inkompetente Denkschrift”, aber während der vier Jahre des Krieges hat man in Wien auf die Thesen dieses Dokuments seht oft zurückgegriffen, zum Beispiel: „Diese Rolle wird, wie jeder österreichisch–ungarische Diplomat, der in den Nachbarlanden der Monarchie gewirkt hat, konstatiert haben muss, von der ka- tholischen Bevölkerung dieser Gebiete direkt erwartet.” Wenn die reichspatriotische und dynastietreue Solidarität von den Dip- lomaten erfordert wird, warum soll sie aber den Würdenträgern Gottes Landes nicht als eine heilige Plicht zugelassen werden? Es ist Tatsache, dass Prohászka, wie alle seine Kollegen, das bewaffnete Vorgehen gegen Russland (Vormacht der Orthodo- xie!) – wenn auch nicht mit Tat – so doch mit Rat und Gebet unterstützten. Wie ging es aber weiter? Bei Lichte besehen war diese Haltung berechtigt: Die Pflicht des Schutzes des Vater- landes ist theologisch gesehen absolut am Platze. „Nervus belli pecunia infinita.” Hinter dem Krieg steckt unermesslich viel Geld. In Prohászka war nach einem Jahr Kriegsoperationen das schon lange da gewesene Gefühl des Antimilitarismus zu Kräften ge- kommen - aber im Jahre 1915 noch gedämpft, eingebettet in die Zusammenhänge des göttlichen Fatums. „Mein Pessimismus und meine Verachtung gegenüber dem Krieg, gegenüber allem, was militärisch ist, verstehe ich nicht so, dass ich im Krieg nichts Großes sehen würde, gerade im Gegenteil: Ich sehe darin das übertriebene Wollen, das Millionen lenkt und ich sehe darin viel heroisches Wollen, das den Gehorsam den Befehlen anderer zu folgen erzwingt und im Schnee, in Frost, in den Schützengräbern und im Schlamm aushält. Das ist das große Wollen, wo das grö- ßere Sollen gebietet! Darüber könnte man ein Buch schreiben. Und es ist so herzbewegend, wie die Psyche weint, Besorgnis- se hegt und sich an die unbekannten Perspektiven der Zukunft spähend klammert. Mein Gott, welch ein Opferwirbel, welch eine Grundwelle! Sie betet; Du sollst mich retten ... dann traut sie und ergibt sich letztendlich. Das ist kein Fatum, sondern das Fins- ternis des Ölberges, jene Nacht, die mit roten Lichten erfüllt ist, mit den leuchtenden Bluttropfen Christi. Wir müssen vorwärts gehen, wir müssen beten und dulden; Ein großes Fatum leitet die Welt unter den Hammer Gottes. Müssen wir beklagen, wenn sie zu Grunde geht? Aber was müssten wir beklagen? Ob das Christentum untergeht?” Aber wie kann man sich für die Zusammenhaltung eines Reiches einsetzen, das im Wege der ungarischen Unabhängigkeit steht? Eine kurze Zeit ja, aber als die düsteren Wolken der russischen Bedrohung wegziehen, tritt die Andrian’sche Idee der katholi- schen Vormacht in den Hintergrund und es leuchtet wieder die Unabhängigkeit oder mindestens eine Personalunion auf. Insbe- sondere die Nationalitäten haben 1918 die Auflösung der Donau- monarchie ohne Tränen nachzuweinen zur Kenntnis genommen. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und sowohl die Si- cherheit als auch die nationale Souveränität zu haben, ist aber selten durchführbar. Die Gestaltung der Kriegslage schon nach September 1914 hatte bewiesen, die Ostgrenze gegen die rus- sischen Angriffe zu verteidigen ist nur mit vereinten Kräften rea- lisierbar. Und dazu brauchte Österreich–Ungarn militärisch auch den deutschen Kriegsgenossen, der die Monarchie mehrmals über das Wasser gehalten hatte. Ein selbständiges Ungarn hätte in dieser Situation untergehen und zu einer russischen Kolonie (Fortsetzung auf Seite 18) 17