Würdenträger höchsten Ranges eine ungarische Unabhängig-
keitspolitik – eine vollkommen isolierte staatliche Existenz von
Österreich – ohne Widerspruch verfolgen? Ob er in seiner Rolle
in einen Widerspruch mit sich selbst geraten ist? Seine tiefgrei-
fende katholische Schulung hatte zu dieser Ambivalenz keine
massive Grundlage geschaffen. Prohászka wurde auf Initiative
des Erzbischofs von Gran/Esztergom, János Simor, zum Stu-
dium nach Rom gesandt. Dort konnte er im Collegium Germani-
cum et Hungaricum und an der Päpstlichen Universität Gregoria
seine Kenntnisse und seine Verpflichtung als Christ und katholi-
scher Seelsorger vertiefen. Später bekam er Pfründen als Semi-
narist sowie Pfarreien in Esztergom und Budapest. Es gibt kein
Zeichen dafür, dass er irgendwelche durchschlagenden Anlässe
zu einer wenn auch kirchenpolitischen Karriere gehabt hätte.
Landesweit bekannt geworden ist er durch geistliche Übungen
für Männer und nichts anderes. 1904 wurde er Professor für Dog-
matik an der Budapester Universität: Aufträge, hinter denen kei-
ne direkten politischen Aspirationen verbergen. Der Priester darf
über eine politische Stellungnahme verfügen, aber öffentlich darf
sie nur unter gewissen Voraussetzungen und den dogmatischen
Anforderungen gemäß dargeboten werden.
Der erste zu jener Zeit noch kaum bemerkbare, vielversprechen-
de Umstand in seinem Lebenslauf war die Wirkung der Enzyklika
Rerum Novarum des Heiligen Vaters Leo XIII., in der die sozial-
politische Verpflichtung des Katholizismus verkündet wurde. Als
der zweite nicht zu vernachlässigende Moment ist sein ab 1893
zu Tage tretender Antisemitismus zu erwähnen. Diese beiden
Punkte erschienen später als die vorantreibenden Beweggründe
seiner politischen Tätigkeit und als die Ressourcen, aus denen
sich die politischen Bestrebungen Prohászkas ernährten - so-
wohl was die inländischen Verwicklungen als auch die Vorgänge
in der Weltpolitik betrafen. Und diese beiden Gesichtspunkte hat
ein noch umfassenderes kognitiv-theologisches Konzept ver-
einigt: „[…] die Heilige Schrift sagt uns nicht, wie sich die Welt-
all dreht, sondern sie sagt uns wie wir dahin gelangen können.”
Alles, was dieser These entgegenstand, war eine Zielscheibe für
Ottokar Prohászka.
Was die österreichisch–ungarische Außenpolitik anbelangt, heg-
te sie europapolitische oder an gewissen Stellen weltpolitische
Aspirationen. Das an seiner diplomatischen Kraft geschwächte
traditionale Großreich tat alles dafür seine Stellung als Groß-
macht zu behalten. Zu Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahr-
hundert biss es bei diesen Bestrebungen oft auf Granit. Die nicht
bestens laufende Balkanpolitik mit Russland in den 1890ern, die
Interessengegensätze mit Deutschland in der Deutschfrage, die
voreilig durchgeführte Annexion Bosniens und der Herzegowina
trugen dazu bei, dass die Donaumonarchie viel an Renommee
und Autorität verlor. Für seine europa- und weltpolitischen Be-
strebungen verwendete die österreichisch–ungarische Außenpo-
litik eine seltsame, aber seit den ältesten Zeiten an gut bewährte
ideologische Konstruktion: Die Dynastie hat immer so gefühlt,
sie habe eine vom Gott auferlegte Berufung, die außerordentlich
vielen Volksstämme auf ihrem Staatsgebiet unter ihrem Zepter
zusammenzuhalten und die Habsburger müssten dieser histori-
schen Berufung Genüge leisten.
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Aber wie kommen zu diesen geschichtsphilosophischen Er-
örterungen die Persönlichkeit und die von der Geschichte er-
zwungene politische Rollenverteilung Prohászkas? Für einen
der römischen Kirche gehorchenden Geistlichen lag es nicht auf
der Hand, diese Berufungsbestrebungen außer Acht zu lassen.
Dieses Berufungsbewusstsein der Habsburger erschien nämlich
nicht nur in politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Ge-
wand. Die Habsburger haben sich nämlich in jeder Zeit als eine
katholische Vormacht aufgefasst. Der Akzent muss deutlicher
gesetzt werden: nicht nur Großmacht, sondern Vormacht. Tho-
mas Mann: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.” Wir können
nie genug in die ältesten Jahrhunderte zurückzugehen: Wenn wir
einen Blick auf die Rollenübernahme im Dreißigjährigen Krieg
werfen, sehen wir einhellig: Für die Verteidigung und die Expan-
sion der alleine heilbringenden katholischen Konfession wurden
die meisten Opfer dargebracht. Der Gegner in diesem den gan-
zen Kontinent umfassenden Konflikt war Frankreich, an seiner
Spitze mit Kardinal Richelieu auch, aber nicht so sehr.
Der Leiter der habsburgischen Diplomatie, Ferdinand II., hat -
ausgegangen von den Interessen der Religion - die Interessen
des von ihm repräsentierten Staates für null und nichtig erklärt.
Der Leiter der französischen Außenpolitik, Richelieu hat - ausge-
gangen von den rationalen Staatsinteressen - im Jahre 1629 die
Sache des Katholizismus im Grunde genommen verraten. Henry
Kissinger schreibt in seiner groß angelegter Analyse über die Di-
plomatiegeschichte: „Richelieu hätte sich nie erlauben können,
dass er so eine große Mölichkeit verpasst, welche […] sich für
Ferdinand angeboten hat. Die protestantischen Fürsten wären
bereit gewesen, die politische Oberhoheit der Habsburger an-
zuerkennen, falls diese Oberhoheit sich mit der Religionsfreiheit
gepaart hätte, außerdem wenn sie, die Fürsten, ihre während
des Reformationskrieges besetzten kirchlichen Besitztümer hät-
ten behalten können. Ferdinand II. hat aber seine religiöse Be-
rufung seinen politischen Bedürfnissen nicht untergeordnet. Er
hat seinen gewaltigen Sieg und die Sicherheitsgarantie seines
Reiches zurückgewiesen, um die protestantische Ketzerei auf-
zuheben. Er hat seine Restitutionsverordnung erlassen, in der
er die Forderung stellte, dass die protestantischen Fürsten die-
jenigen Landgüter zurückzuerstatten verpflichtet sind, die sie seit
1555 erworben haben. Das war der Sieg des blinden Eifers über
die Zielstrebigkeit, ein typisches Beispiel dafür, wie der Glauben
die Gesichtspunkte des politischen Interesses außer Acht läßt.
Und den Krieg musste man dann bis zur völligen Erschöpfung
fortsetzen.”
Richelieu lebte als Privatmensch fromm und gläubig und dies im
Großteil auch als Primas von Frankreich. Kirche und Politik hatte
er aber voneinander getrennt: Als Politiker folgte er nicht in jeder
Hinsicht dem Dogma, er dachte so: Man muss stark genug dazu
sein, alles zu machen, was man für nötig hält; die Handlungen
des Politikers kann man nicht gemäß der menschlichen Normen
beurteilen. „Der Staat ist nicht unsterblich, entweder wird er jetzt
selig oder nie.” – pflegte er zu sagen. Aber die die Mitglieder des
österreichischen Hauses dachten anders: Sie legten ein großes
Gewicht auf diese „Vormachtposition”, was sie auch vom Klerus
erwartete– abgesehen davon, ob er in Salzburg, in Prag, in der
Bukowina oder in Ungarn diente.
Die katholische Geistlichkeit war in Ungarn zur Zeit des Spätdu-
alismus in diesem Dilemma geteilt. Die untere geistliche Schicht
war mehrheitlich für die Unabhängigkeit, die vollkommene Tren-
nung von Österreich. Die oberen Schichten - ab 1905 gehörte
ihnen Prohászka selbst an - plädierten für den Dualismus. Nicht
anders war es unter den politischen Parteien im ungarischen
Reichstag. Die seit 1875 existierende „Szabadelvű Párt” [Frei-
sinnige Partei] löste sich 1905 auf und ein Teil der Abgeordneten
gründete die so genannte „Alkotmánypárt” [Verfassungspartei],
die ein paar Jahre später, 1910, infolge einer Vereinigung mit
anderen kleineren Gruppen den Namen „Munkapárt” [Arbeiter-
partei] annahm. Alle diese drei politischen Parteien standen auf
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