Sonntagsblatt 1/2020 | Page 18

werden können. Eine andere Art und Weise der außenpolitischen Haltung lag nicht auf der Hand. Es blieb nichts anderes übrig als den Krieg zu unterstützen. Sonst vermischt Prohászka die Funktionen der Kirche nicht mit den staatlichen Funktionen, seine „Arbeitsteilung”: Der macht so, der andere anderswie. Ein paar Jahre später, 7. Juli 1919 schreibt er in sein Tagebuch: „Auch gegenüber dem Staat leite uns nicht das traditionelle Recht, noch weniger das Machtinteresse. Wer weiß, was aus dem Recht auf uns bleibt und außerdem, warum wollen wir uns Machtinteressen durch den Staat, durch den ir- religiösen [Hervorhebung von mir – Z. T.] Staat sichern? Diese Machtinteressen können wir uns aus eigenen Kräften, durch das Volk sichern. Uns leiten nicht die Politik, sondern die großen ge- meinnützigen Interessen von Staat und Gesellschaft. Wir wissen, wie wir diesen beiden helfen können und dass die reine Moral nur wir sichern. Davon sind Staat, Gesellschaft, Ordnung, Diszi- plin und Glücklichkeit abhängig. Wenn wir Kontakte aufnehmen, richten wir uns in der Wahrnehmung der Sachen nach diesem Gesichtspunkt.” Um noch weiter in die Vergangenheit zu gehen, schlagen wir den Band seiner „Soliloquia” auf Seite 420 auf: „Ich scheute mich immer vor der Politik und mein guter Genius ließ mich 1896, im Jahre der hundsgemeinen Bánffy-Wahlen, an der Wahlver- anstaltung am Ufer von Vágvecse verlieren. Mein ehemaliger Schulkamerad, Gyula Markhót, hat gegen mich mit 140 Stim- men Mehrheit gewonnen und ich bin gleich in meine Kutsche gesprungen und mit meinem wackeren Freund, Dr. Tóth bin ich wie ein kleiner Caesar-Kandidat nach einer verlorener Schlacht weggegangen. Verlassen, noch flammende Hirtenfeuer leuchte- ten, nachher wartete ich in Tarnóc auf den Zug und etwa eine Stunde nach Mitternacht gelang es mir in den Zug zu steigen. Am Morgen im Seminar ist der Gesang der heiligen Messe von Donnerstag in meine Stube hereingeflogen, um meine Schande zu lindern. Nota bene! Deo gratias! Die Politik ist nichts für mich; aber wenn ich auch kein Politiker bin und das Schicksal der Kir- che nicht mit der Politik verbinden will (Gibt es ja Politik, an der einmal manches nicht auszusetzten ist, inbegriffen das deutsche Zentrum und die ungarische Volkspartei?!), verstehe ich aber die philosophische Erfordernis und ich verstehe die Zeugnisse der Geschichte und aus diesem Grund bin ich ein Getreuer der Freiheit, des Fortschritts und des Sozialismus und ich will das Christentum in diese Richtung beeinflussen. Wir müssen Freiheit haben! Das ist das Milieu der Freiheit, ohne diese gibt es ein Va- kuum und wir ersticken. Also Freiheit für die Kirche! Kombinieren wir die Kirche nicht so sehr mit dem Prinzip der Nicht-Freiheit und mit der Macht! Ich weiß, dass es gut ist, wenn das Autoritäts- und Freiheitsprinzip, die Macht, und der Vertreter des Geistes, die Kirche, einander verstehen und unterstützen. Das ist nämlich der Lauf der Dinge, dass wir Synthesen unter den unterschiedlichen, aber trotzdem menschlichen, humanitären Faktoren suchen, aber dabei möglichst wenige Synthesen - wir würden sagen, nur so viele, wie man eben braucht. Ich mag nicht die Umschlingung, wenn der Sohn von Mars die Ecclesia umarmt und wenn die Ec- clesia zu sehr am Mars hängt!” Eindeutige und aufrichtige Rede: drei Schritte Entfernung! In schroffem Gegensatz dazu Richelieu, bei dem die Umschlingung nur deshalb nicht möglich war, weil in ihm die Macht und die Ec- clesia in einem Körper zusammen war, lag das im Jahre 1648 geschaffene außenpolitische System, das so genannte „West- fälische System”, schon vor dem I. Weltkrieg in Ruinen: Europa war in zwei Lagern gespalten, die Säkularisation vorangeschrit- ten sowie Verwaltung und Kirche voneinander getrennt. In Eu- ropa wurde nach Bismarck das außenpolitische Gleichgewicht endgültig abgeschafft. Aus den maßgebenden Kreisen der deut- schen Hexenküche kam eine neue Form der Außenpolitik, die „Machtpolitik” und nach dieser die „Weltpolitik” . Der Griff nach dem Weltmachtstatus, der sich in Kriegszielen der deutschen Großindustrie sowie im „Drängen der Nation”, also praktisch in den pangermanischen Vorstellungen äußerte. 18 Schon ganz früh, drei Jahre vor dem Ausbruch des Krieges er- scheint in Prohászkas politischer Denkungsart das Missgefühl gegenüber dem Dreibund gegenüber der Aufrechterhaltung des Dualismus und überhaupt der damaligen Großmacht- und Welt- politik, wofür er die regierenden ungarischen Politiker verant- wortlich machte. „Und jetzt machen wir einen Purzelbaum, und zwar im ungarischen öffentlichen Leben, [so erblicken wir] die Absichten von Tisza , einen Abgrund seines Despotismus, sei- ner Gewalttätigkeit! Mein Gott, wie eine zwergenhafte, hässliche, zu weit hergeholte, lügenhafte Welt ist das; ein Tartarenzug der Machtwillkür, der imperialistischen Abgötterei. Wir müssen eine Armee haben, wir müssen Geld haben – dem alten Ferenc Jóska wurde in Berlin der Befehl erteilt, dass so und so, das europäische Gleichgewicht gebrochen wird; der Russe durchstößt mit seinem panslawistischen Stiefel den Arsch Österreichs!” Obwohl dem Panslawismus in der spätdualistischen Zeit der Giftzahn schon gezogen war, hatte er in Form des Gesamtslawismus seine zwei- te Blütezeit erlebt und die militärische Gefahr war größer als je. Österreich–Ungarns Ostprovinzen, Galizien und die Bukowina lebten unter einer hochgesteigerten Spannung, in jeder Stunde war eine russische Provokation zu erwarten. Galizien nannte man in der Presse „Spionageparadies”. Als die Deutschen be- züglich einer beschränkten Modernisierung des Waffenarsenals Forderungen stellten, hatten sie Recht. Und seitens Prohászka war die Kritik mit dem Missverständnis der Lage identisch. Der Episkopat tanzte jedenfalls auf der Messerspitze: Viele Ten- denzen, Meinungen, Bestrebungen unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen, galt als keine leichte Aufgabe. Nach dem Zeugnis von Prohászkas Tagebuch begleitete der Bischof von Stuhlweißenburg dieses Ringen mit den umliegenden politischen Faktoren und Ebenen mit stoischer Ruhe und mit bitterem Hu- mor, außerdem mit nicht milder Verachtung. „Nun also, ich bin kein Politiker, aber ich genieße diese Winkelzüge, die in den Un- terhandlungen, in den Abweichungen unter den Parteien hin und her liefen, was sich später in der Anbiederung an die mehrheit- lichen »Dungos« fortsetzte. Viel ehrlicher ist der auf der Straße arbeitende Steinbrecher oder auch der allerletzte Lohnarbeiter!” Und gingen die Abordnungen unter der Leitung von Csernoch und Glattfelder einmal hier, einmal da; der Primas saß zu Hause und Csernoch sah klar, dass sich hier die Orientierung nur nach dem Sacratissima Maiestas ziemt.” Also man richtete sich nach dem Wiener Machtzentrum: Franz Joseph, dem gemeinsamen Außenministerium, an dessen Spit- ze in diesem Jahr der Ungarn, István Burián stand. Prohászka nimmt eine neutrale Haltung in den Konflikten zwischen der Re- gierungspartei und den Oppositionellen ein. In der Abstimmung im Herrenhaus im Juli 1911 saß er auch zu Hause und nahm keine Partei für oder gegen. (Als Diözesanbischof von Székesfe- hérvár war seine Herrenhausmitgliedschaft automatisch.) Einige aus den Reihen der Opposition versuchten ihn zu überreden an der Abstimmung teilzunehmen – ohne Erfolg. Der Ministerpräsi- dent István Tisza riet ihm an der Sitzung nicht teilzunehmen oder nicht abzustimmen – mit Erfolg. Aber er wäre sowieso zu Hause geblieben. Danach kam das andere Ego in Gang: „Ich habe ein- gesehen, ich habe nicht richtig getan, dass ich schwieg. Wenn man Herrenhausmitglied ist, muss man reden, wenn man reden muss, oder man muss kein Herrenhausmitglied sein.” Im Laufe seines ganzen Lebens quälte ihn der Argwohn, dass er einmal infolge der Notwendigkeiten der amtlichen Pflichten am Charakter Verluste erleidet. Die Charakterlosigkeit hielt er für viel schädlicher als die Gefahr der Unterbrechung seiner Karriere. Er beobachtete und analysierte gleichzeitig die Veränderungen sei- ner politischen Attitüde zwischen zwei oder mehreren Zeitpunk- ten und hatte Angst, dass diese Attitüde infolge seiner Arbeit als Seelsorger und insbesondere als Quasi-Politiker zu große Ver- schiedenheiten aufweist: Er könnte ein anderer Mensch werden, was er aber nicht gerne akzeptieren würde. Der amerikanische Soziologe, Gregory B. Markus schreibt: „Die Vertrautheit mit der SoNNTAGSBLATT