Sonntagsblatt 1/2020 | Page 19

Untersuchung von Attitüdenzuständen und die Heraufbeschwö- rung der eigenen Attitüden in der Vergangenheit sind davon ab- hängig, wie groß die kognitive Zugänglichkeit des Individuums zu den Anhaltspunkten der eigenen Attitüden in der Vergangenheit ist.” Im Falle derjenigen, in deren Identitätsbild die politischen Präferenzen fest eingebaut sind, ist die kognitive Heraufbe- schwörung der alten, versunkenen Attitüden stabil und gleichzei- tig vertraut. Prohászka ist ein Sonderfall: Er wurde von seinem Beruf in die Ära der Politik getrieben, aber die Präferenzen waren in sein Ego nur lückenhaft eingebaut. Daher kam die Unsicher- heit, die Aversion, an etwas teilzunehmen, in einigen Fällen Ab- stand zu halten und letztendlich die Flucht vor der Wahrnehmung einer politischen Rolle, was oft zu Rollenkonflikten führte. „Ich bin kein Kenner der Politik. Im Herrenhaus kehre ich dann und wann ein. Wegen der Nichtstuerei besuche ich politische Zir- kel nicht, so habe ich nur eins verdient, dass ich samt noch vielen anderen aus dem Herrenhause herausgeschmissen werde. Es würde mir nicht die geringste Sorge bereiten, sogar würde ich mich darüber freuen. Einem verdirbt sich der Charakter, wenn man wahrhaftig nicht das ist, wozu man berufen ist und trotz- dem macht man so, als wenn man das wäre. Was bin ich doch? Politiker? … Aber ich müsste auch das sein. Nein, nein, was wir nicht sein können, dessen Farbe müssen wir nicht anhaben! Allerdings bereue ich, dass mein Leben größtenteils in meinen vier Wänden abgelaufen ist, so entwickelte sich mein entschlos- sener, chevaleresker, aufrichtiger, kämpferischer und explosiver Charakterzug nicht vollständig. Ich habe erfahren, dass ein Cha- rakter in der Welt gestaltet wird, man muss also ein weltnahes Leben führen, damit der vollkommen edle, tapfere Charakter ausgestaltet wird.” (Fortsetzung folgt) Mikrokosmos Ost- und Mitteleuropa s Deutsche Volksgruppen Bist du Zigeuner, was ist das für eine Arbeit? – die Abenteuer ungarischer Altenpfleger in deutschen Landen (Te cigány vagy, milyen munka ez? – Magyar idősgondozók kalandjai német földön) Ein Beitrag von Tamás Ungár, erschienen am 06. Januar 2020 auf dem Internetportal 24.hu. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Chefredakteur Péter Pető. Übersetzung: Richard Guth Montags, mittwochs und freitags machen sich aus gut 50 süd- transdanubischen Ortschaften 604 Altenpflegerinnen und Alten- pfleger mit elf Kleinbussen nach Österreich und Deutschland auf – sie lösen gleichzeitig andere ab. Überwiegend geht es um Frauen, die mit häuslicher Pflege ihr Brot verdienen, im Schnitt 50-100 Euro am Tag. Wer sind sie? Warum sind sie bereit fern der Familie zu sein? Sie erzählen selbst über ihr Schicksal. Maria Czirják würde gerne nach Hawaii fliegen. Aber vorerst bleibt ihr die Autofahrt nach München - nicht um sich zu erholen, sondern um zu arbeiten: als Pflegerin. So muss sie noch etliche Jahre schaffen, um genügend Reserven zu haben, um sich eine Reise nach Hawaii leisten zu können. Die 49-jährige Frau pendelt aus finanziellen Gründen nach Deutschland. Maria ist im Branauer Boschok/Palotabozsok auf- gewachsen. Ihre Familie litt nie Not. Ihre Eltern bauten ein großes, SoNNTAGSBLATT geräumiges Haus und wirtschafteten wie ihre schwäbischen Ah- nen vorausschauend. Maria, die Maschinen- und Schnellschrei- ben und dann Einzelhandelskauffrau gelernt hat, heiratete mit 18 einen deutschen Mann, der sich in Boschok des Öfteren aufhielt. Die Frau zog nach Deutschland und fand in einem Juwelierge- schäft eine Anstellung. Die Ehe ist nach einem Jahr in die Brüche gegangen, Maria blieb aber noch vier Jahre in Deutschland. Bei einem Heimaturlaub verliebte sie sich in einen Wemender. We- gen ihm zog sie wieder nach Ungarn. Aus ihrer zweiten Ehe sind ein Mädchen und ein Junge hervorgegangen. Mit ihrem Mann betrieb sie zuerst eine Metzgerei, dann eine Kneipe. Auch diese Ehe wurde geschieden und Maria zog 2006 mit ihren Kindern ins elterliche Haus in Boschok. Die Frau fand keine Anstellung in der Umgebung und sah, dass viele Frauen im Ort in deutschen Landen dem Pflegeberuf nachgehen – für viel mehr Geld als in Ungarn -: so entschied sie sich auch dafür. „Das entscheidende Argument war, dass wir ein deutsches Aus- tauschkind erwarteten und wir bis dahin eine Schlafcouch an- schaffen mussten. Sie kostete 200.000 Forint (damals etwa 700 Euro, R. G.), aber ich hatte kein Geld dafür”, erinnert sie sich an die Entscheidung. Maria Czirják hat zuerst einen 90-jährigen krebskranken Mann in Hessen betreut, dessen Krankheit sich im Endstadium be- fand, danach eine 80-jährige Frau. Zwei Wochen verbrachte sie dort, zwei Wochen zu Hause mit den Kindern. Nach einem Jahr kehrte sie zurück, weil sie endlich auch zu Hause einen Job fand: im Callcenter einer ausländischen Firma in Fünfkirchen, wo deutsche Sprachkenntnisse Voraussetzung waren. Sie blieb fünf Jahre, aber ihr Gehalt blieb konstant, so dass sie sich des- wegen und wegen der täglichen Pendelei entschloss, wieder in Deutschland als Krankenpflegerin zu arbeiten. Sie wollte aber nicht mehr rund um die Uhr in einem Haushalt arbeiten, sondern wandte sich an eine Firma, die sich mit häuslicher Pflege be- schäftigt. Dazu musste sie einen 200 Stunden-Kurs absolvieren. Seit 2012 pendelt sie nach München, wo sie drei Wochen lang täglich acht Stunden arbeitet, um sich danach drei Wochen lang zu Hause auszuruhen. In München besucht sie täglich 27-28 Kunden, die sie wäscht, füttert, mit Medikamenten versorgt, ihre Wunden behandelt, Spritzen und Infusionen verabreicht sowie Windeln wechselt. Sie fährt ein Auto zur persönlichen Verfügung und wohnt in einem Appartement eines Mehrfamilienhauses. Ihre Nachbarn sind ungarische Altenpfleger; sie sind zu fünft, der jüngste ist 24, der älteste 62. Sie könnten aufeinander zählen, oft würden sie zusammen kochen, shoppen, Kaffee trinken oder Ausflüge machen, sagt Maria Czirják. Nanu, Nummer 17 ist da! Für diese Arbeit erhalten sie 50 Euro am Tag, dazu kommen noch 30 Euro Verpflegungsgeld pro Woche und hin und wieder Trinkgeld. Für die Unterkunft sowie die Fahrtkosten müssen sie nicht aufkommen. Ihr Einkommen beträgt etwa 250-280.000 Fo- rint im Monat (750 - 835 Euro, R. G.). Das ist nicht viel, aber Maria beklagt sich nicht. Bislang konnte sie nach eigenen An- gaben kein Geld zurücklegen, weil ihre Tochter früher ein kos- tenpflichtiges Studium absolviert und man ständig Ausgaben für das Einfamilienhaus der Eltern aus den 1980ern habe, in dem sie mit ihrer verwitweten Mutter und ihrem Sohn wohnt, der noch nicht erwerbstätig ist. Wenn sie bei einer Familie wohnen und dort jemanden versorgen würde, dann würde sie – weil sie dort Vollverpflegung erhalten würde – etwas mehr verdienen, aber so gefalle es ihr besser: „Ich muss nicht das Leben eines anderen leben. Wenn ich einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst annehmen würde, dann hätte ich keine Zeit für mich.” (Fortsetzung auf Seite 20) 19