Aus Boschok und den umliegenden Dörfern fahren seit Jahren
mehrere hundert Frauen mit schwäbischen Wurzeln ins deutsch-
sprachige Ausland. Die Mehrheit der Pendlerinnen wählt lieber
den Dienst in einer Familie, täglich 22-24 Stunden zwei Wochen
am Stück. Die Schwierigkeit bei dieser Arbeit ist die ständige
Bereitschaft. Die Pflegerinnen haben zwei Stunden Freizeit am
Tag, aber es komme vor, dass sie diese auch nicht nutzen kön-
nen, weil sie einen Kranken pflegen, der ständig bewacht werden
müsse, in dem Falle würden sie Geld für die entfallene Freizeit
erhalten. Jedoch hätten die Pflegerinnen – auch wenn die betag-
te Person und der Haushalt drumherum sehr viel Arbeit bereite
– in der Regel immer noch genug Zeit, um Fernsehen zu gucken,
lesen, surfen oder um mit den Verwandten und Bekannten zu
telefonieren oder zu chatten. Es gab auch solche, die zugaben,
über die Schlafenszeit hinaus täglich sechs bis acht Stunden Zeit
zur freien Verfügung gehabt zu haben.
Für die Pflegerinnen in den Einzelhaushalten scheint eine wich-
tige Frage zu sein, wie sie sich Geltung verschaffen beim Kran-
ken und seiner Familie, die den Pflegerinnen Arbeit und Obdach
bieten.
„Die eine Frau, bei der ich arbeitete, stand am Tor und als sie
mich erblickte, schrie sie: „Nanu, hier ist Nummer 17. Die arme
Frau hatte eine Natur, die nicht auszustehen war, sie hat stän-
dig rumgemotzt. Nach vier Wochen bat ich um einen neuen Ein-
satzort. Den habe ich auch bekommen, und zu der Frau ging
Nummer 18”, erzählt die 72-jährige Maria Thurn, die anderthalb
Jahrzehnte als Altenpflegerin im Ausland arbeitete.
Die 61-jährige Edit – die nur ihren Vornamen angeben wollte –
erzählt so von einem ihrer Misserfolge: „Es gab eine Bas, die es
einfach nicht schaffte mich liebzugewinnen. Obwohl ich stets ruf-
bereit war. Eines Tages wollten wir wegfahren, aber sie bat mich
vorher die frisch gewaschenen Gardinen aufzuhängen. Ich tat es
und wir fuhren los. Später sah sie, dass die Gardinenfalten nicht
richtig saßen – natürlich nicht, denn ich war in Eile, sie bemerkte
darauf: „Du bist Zigeuner, was ist das für eine Arbeit?“ Ich nahm
mir das sehr zu Herzen und verließ den Haushalt.
Ein Teil der Arbeitgeber meint, diese Beleidigungen müssten die
„Diener” aus dem Ostblock ertragen. Und tatsächlich halten die
Altenpfleger dem eine Zeit lang stand. Die Not zwingt sie dazu.
Edit zum Beispiel ging danach nach Deutschland, nachdem ihr
Mann, der ein Maurerkleingewerbe hatte, mit 55 Jahren krank
wurde. Die Frau wurde bis dahin als Altenpflegerin von der Kom-
mune beschäftigt, aber das Geld reichte für beide von hinten und
vorne nicht, da der frühberentete Mann nur 30.000 Forint erhielt
(90 Euro, R. G.).
Edits Mann ist diesen Sommer gestorben. Eine Tochter, die in
Edits Haus wohnt, hat zwei Töchter und erzieht beide im schul-
pflichtigen Alter alleine, unter ihnen die kleinere, die 10-jährige
Enkelin, die seit dem Tod des Opas nicht alleine sein möchte,
weswegen ihre Mutter die Stelle kündigen musste, damit sie
nach der Schule zusammen sein können. Also muss Edit – auf
unabsehbare Zeit – auch sie ernähren. Sie rechnet jetzt so, dass
sie noch acht Jahre pendeln müsste um so viel zusammenzu-
bekommen, dass sie aufhören und in Rente gehen kann. Aber
bis dahin muss sie wohl die Laune ihrer Auftraggeber ertragen.
Zurzeit hat sie nach eigenem Bekunden keine solchen Proble-
me, denn sie pflegt seit zwei Jahren eine 88-jährige bettlägerige
und geistig abgebaute Frau in Wien, von der sie erzählt: „Ich
koche für sie, sie mag die Rindersuppe besonders. Ich mache
sie sauber, oft muss ich sie waschen, denn sie verschmiert oft
den Kot. „Du bist so süß”, sagt sie. Die Schönheit dieser Tätigkeit
besteht darin, wenn man dankbar angeschaut wird.”
Alle von mir befragten Branauer Altenpflegerinnen betonen dies.
Die Distanz der Gepflegten ändert sich oft. Maria Thurn hat am
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Starnberger See einen alten Freiherrn in seinen Neunzigern und
seine Frau gepflegt. Das Ehepaar wohnte in einer Mietwohnung,
nachdem ihr prächtiges Anwesen durch einen ihrer Söhne ver-
spielt worden war. Der Freiherr hat Frau Thurn immer so vorge-
stellt: „eine Ungarin/Madjarin”. Maria hat des Öfteren eine Skizze
des Stammbaumes der Familie des Barons, die an der Wand
hing, angeschaut und sie fand etwas: „Mir fiel auf, dass im 19.
Jahrhundert in die Familie des Freiherrn ein Madjare aus Fünf-
kirchen einheiratete. All meine Vorfahren sind hingegen deutsch.
Ich sagte zu ihm: ”Herr Baron, Sie sind eher ein Ungar/Madjare
als ich, denn in meiner Familie gibt es nur Deutsche. Seit diesem
Zeitpunkt nannte sie mich immer „unsere Maria”.”
Die Tochter von Maria Thurn, Hedwig Basa, folgte dem Beispiel
ihrer Mutter und arbeitete von 2008 bis August 2019 als Kran-
kenpflegerin in Deutschland und Österreich. Sieben Jahre lang
betreute sie die Witwe eines Professors in Wien. Die Frau sei
reserviert und misstrauisch gewesen, sie habe ihre Pflegerin und
– wie sie wohl von Nachbarn erfuhr – alle ignoriert. Die Bezie-
hung erschwerte der Umstand, dass die Frau an Kehlkopfkrebs
erkrankt war und kaum sprechen konnte. Ihre kurzen Bitten habe
Hedwig vom Mund abgelesen, die längeren habe die Frau auf-
geschrieben. Mit ihnen wohnte noch der Sohn der Frau, er war
der Arbeitgeber von Hedwig, aber mit seiner Mutter habe er
kein Wort gewechselt. Nach einem halben Jahr spürte Hedwig
nach eigenem Bekunden, dass sich das Misstrauen der Frau ihr
gegenüber löse: „Sie fing an von ihrer Vergangenheit zu erzäh-
len und darüber, wie ihre Tochter heroinsüchtig wurde und auch
starb. Dann starb auch ihr Mann. Nach Ansicht der Frau haben
sie und ihr Mann die Tochter mehr geliebt als den Sohn, worunter
ihr Sohn gelitten habe, wodurch er selbst verschlossen geworden
wäre. Er heiratete, bekam ein Kind, ließ sich scheiden und auch
zu seinem Sohn habe er keinen Kontakt gepflegt. Wenn ihr Sohn
nicht zu Hause war, ging die Frau in sein Zimmer und hinterließ
auf seinem Bett oder Tisch einen Brief. Der Sohn reagierte nie.
Abends schaute er bei der Mutter vorbei, wünschte gute Nacht
und ging wieder. Ich bat ihn, zu akzeptieren, dass seine Mutter
ihn braucht, er solle sich hin und wieder mit ihr unterhalten – er
hat empört reagiert, was das soll und dass er mich deswegen
angestellt habe, damit ich bei ihr bin. Dann hatte es die Frau auf
einmal satt. Sie aß nichts mehr, nahm ab und starb.”
Wenn die hilflosen Alten spüren, dass ihre Pflegerin tatsächlich
Interesse an ihrem Leben haben, dann kann sich die Beziehung
zwischen Pflegepatient und Pfleger zu einem Vertrauensver-
hältnis entwickeln. Maria Czirják, die in der Tagespflege arbei-
tet, interessiert sich nach ihrem eigenen Bekunden auch für das
Leben der Patienten (auch wenn sie täglich nur 5 – 15 Minuten
mit ihnen verbringt): „Ich mache Halt vor einem Familienfoto und
frage nach, wer auf dem Foto abgebildet ist, und sie erzählen
über die Familie und sich selbst. Auch ich habe dadurch mehr
Spaß am Leben und sie freuen sich jeden Tag auf mein Kommen
und auf die Gespräche. Nach einer Zeit offenbaren sie ihre inner-
sten Geheimnisse. Es gab eine alte Frau, die meinte, dass sie
es zutiefst bereue, ihren Mann nicht betrogen zu haben, denn er
habe sie selbst mit ihrer Ziehtochter betrogen. Es gab auch eine
96-jährige Frau, die mich damit empfang, dass ich mich gleich
verdrücken solle. Als sie merkte, dass ich ihr vom ganzen Herzen
helfen möchte und ihr Fragen stellte, veränderte sie sich, wurde
taktvoll und sagte auf einmal: „Maria, Sie sind so nett zu mir, sie
waschen mich jeden Morgen – wenn Sie alt werden, dann werde
ich Sie waschen.”
Trotz den Erfolgserlebnissen im Ausland und der höheren Be-
zahlung fällt es den meisten Pflegern schwer, die Fernbusse zu
besteigen: „Wir fahren, weil wir gezwungen sind”, sagt Hedwig
Basa. „Ich lernte Kleidungsmacher in Mohatsch und arbeitete
bei einer belgischen Firma, bis sie geschlossen wurde. In der
Zwischenzeit wurden unsere Tochter und unser Sohn geboren;
wir bauten und brauchten Geld. Mein Mann ist Zimmermann, mit
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