Sonntagsblatt 1/2020 | Page 20

Aus Boschok und den umliegenden Dörfern fahren seit Jahren mehrere hundert Frauen mit schwäbischen Wurzeln ins deutsch- sprachige Ausland. Die Mehrheit der Pendlerinnen wählt lieber den Dienst in einer Familie, täglich 22-24 Stunden zwei Wochen am Stück. Die Schwierigkeit bei dieser Arbeit ist die ständige Bereitschaft. Die Pflegerinnen haben zwei Stunden Freizeit am Tag, aber es komme vor, dass sie diese auch nicht nutzen kön- nen, weil sie einen Kranken pflegen, der ständig bewacht werden müsse, in dem Falle würden sie Geld für die entfallene Freizeit erhalten. Jedoch hätten die Pflegerinnen – auch wenn die betag- te Person und der Haushalt drumherum sehr viel Arbeit bereite – in der Regel immer noch genug Zeit, um Fernsehen zu gucken, lesen, surfen oder um mit den Verwandten und Bekannten zu telefonieren oder zu chatten. Es gab auch solche, die zugaben, über die Schlafenszeit hinaus täglich sechs bis acht Stunden Zeit zur freien Verfügung gehabt zu haben. Für die Pflegerinnen in den Einzelhaushalten scheint eine wich- tige Frage zu sein, wie sie sich Geltung verschaffen beim Kran- ken und seiner Familie, die den Pflegerinnen Arbeit und Obdach bieten. „Die eine Frau, bei der ich arbeitete, stand am Tor und als sie mich erblickte, schrie sie: „Nanu, hier ist Nummer 17. Die arme Frau hatte eine Natur, die nicht auszustehen war, sie hat stän- dig rumgemotzt. Nach vier Wochen bat ich um einen neuen Ein- satzort. Den habe ich auch bekommen, und zu der Frau ging Nummer 18”, erzählt die 72-jährige Maria Thurn, die anderthalb Jahrzehnte als Altenpflegerin im Ausland arbeitete. Die 61-jährige Edit – die nur ihren Vornamen angeben wollte – erzählt so von einem ihrer Misserfolge: „Es gab eine Bas, die es einfach nicht schaffte mich liebzugewinnen. Obwohl ich stets ruf- bereit war. Eines Tages wollten wir wegfahren, aber sie bat mich vorher die frisch gewaschenen Gardinen aufzuhängen. Ich tat es und wir fuhren los. Später sah sie, dass die Gardinenfalten nicht richtig saßen – natürlich nicht, denn ich war in Eile, sie bemerkte darauf: „Du bist Zigeuner, was ist das für eine Arbeit?“ Ich nahm mir das sehr zu Herzen und verließ den Haushalt. Ein Teil der Arbeitgeber meint, diese Beleidigungen müssten die „Diener” aus dem Ostblock ertragen. Und tatsächlich halten die Altenpfleger dem eine Zeit lang stand. Die Not zwingt sie dazu. Edit zum Beispiel ging danach nach Deutschland, nachdem ihr Mann, der ein Maurerkleingewerbe hatte, mit 55 Jahren krank wurde. Die Frau wurde bis dahin als Altenpflegerin von der Kom- mune beschäftigt, aber das Geld reichte für beide von hinten und vorne nicht, da der frühberentete Mann nur 30.000 Forint erhielt (90 Euro, R. G.). Edits Mann ist diesen Sommer gestorben. Eine Tochter, die in Edits Haus wohnt, hat zwei Töchter und erzieht beide im schul- pflichtigen Alter alleine, unter ihnen die kleinere, die 10-jährige Enkelin, die seit dem Tod des Opas nicht alleine sein möchte, weswegen ihre Mutter die Stelle kündigen musste, damit sie nach der Schule zusammen sein können. Also muss Edit – auf unabsehbare Zeit – auch sie ernähren. Sie rechnet jetzt so, dass sie noch acht Jahre pendeln müsste um so viel zusammenzu- bekommen, dass sie aufhören und in Rente gehen kann. Aber bis dahin muss sie wohl die Laune ihrer Auftraggeber ertragen. Zurzeit hat sie nach eigenem Bekunden keine solchen Proble- me, denn sie pflegt seit zwei Jahren eine 88-jährige bettlägerige und geistig abgebaute Frau in Wien, von der sie erzählt: „Ich koche für sie, sie mag die Rindersuppe besonders. Ich mache sie sauber, oft muss ich sie waschen, denn sie verschmiert oft den Kot. „Du bist so süß”, sagt sie. Die Schönheit dieser Tätigkeit besteht darin, wenn man dankbar angeschaut wird.” Alle von mir befragten Branauer Altenpflegerinnen betonen dies. Die Distanz der Gepflegten ändert sich oft. Maria Thurn hat am 20 Starnberger See einen alten Freiherrn in seinen Neunzigern und seine Frau gepflegt. Das Ehepaar wohnte in einer Mietwohnung, nachdem ihr prächtiges Anwesen durch einen ihrer Söhne ver- spielt worden war. Der Freiherr hat Frau Thurn immer so vorge- stellt: „eine Ungarin/Madjarin”. Maria hat des Öfteren eine Skizze des Stammbaumes der Familie des Barons, die an der Wand hing, angeschaut und sie fand etwas: „Mir fiel auf, dass im 19. Jahrhundert in die Familie des Freiherrn ein Madjare aus Fünf- kirchen einheiratete. All meine Vorfahren sind hingegen deutsch. Ich sagte zu ihm: ”Herr Baron, Sie sind eher ein Ungar/Madjare als ich, denn in meiner Familie gibt es nur Deutsche. Seit diesem Zeitpunkt nannte sie mich immer „unsere Maria”.” Die Tochter von Maria Thurn, Hedwig Basa, folgte dem Beispiel ihrer Mutter und arbeitete von 2008 bis August 2019 als Kran- kenpflegerin in Deutschland und Österreich. Sieben Jahre lang betreute sie die Witwe eines Professors in Wien. Die Frau sei reserviert und misstrauisch gewesen, sie habe ihre Pflegerin und – wie sie wohl von Nachbarn erfuhr – alle ignoriert. Die Bezie- hung erschwerte der Umstand, dass die Frau an Kehlkopfkrebs erkrankt war und kaum sprechen konnte. Ihre kurzen Bitten habe Hedwig vom Mund abgelesen, die längeren habe die Frau auf- geschrieben. Mit ihnen wohnte noch der Sohn der Frau, er war der Arbeitgeber von Hedwig, aber mit seiner Mutter habe er kein Wort gewechselt. Nach einem halben Jahr spürte Hedwig nach eigenem Bekunden, dass sich das Misstrauen der Frau ihr gegenüber löse: „Sie fing an von ihrer Vergangenheit zu erzäh- len und darüber, wie ihre Tochter heroinsüchtig wurde und auch starb. Dann starb auch ihr Mann. Nach Ansicht der Frau haben sie und ihr Mann die Tochter mehr geliebt als den Sohn, worunter ihr Sohn gelitten habe, wodurch er selbst verschlossen geworden wäre. Er heiratete, bekam ein Kind, ließ sich scheiden und auch zu seinem Sohn habe er keinen Kontakt gepflegt. Wenn ihr Sohn nicht zu Hause war, ging die Frau in sein Zimmer und hinterließ auf seinem Bett oder Tisch einen Brief. Der Sohn reagierte nie. Abends schaute er bei der Mutter vorbei, wünschte gute Nacht und ging wieder. Ich bat ihn, zu akzeptieren, dass seine Mutter ihn braucht, er solle sich hin und wieder mit ihr unterhalten – er hat empört reagiert, was das soll und dass er mich deswegen angestellt habe, damit ich bei ihr bin. Dann hatte es die Frau auf einmal satt. Sie aß nichts mehr, nahm ab und starb.” Wenn die hilflosen Alten spüren, dass ihre Pflegerin tatsächlich Interesse an ihrem Leben haben, dann kann sich die Beziehung zwischen Pflegepatient und Pfleger zu einem Vertrauensver- hältnis entwickeln. Maria Czirják, die in der Tagespflege arbei- tet, interessiert sich nach ihrem eigenen Bekunden auch für das Leben der Patienten (auch wenn sie täglich nur 5 – 15 Minuten mit ihnen verbringt): „Ich mache Halt vor einem Familienfoto und frage nach, wer auf dem Foto abgebildet ist, und sie erzählen über die Familie und sich selbst. Auch ich habe dadurch mehr Spaß am Leben und sie freuen sich jeden Tag auf mein Kommen und auf die Gespräche. Nach einer Zeit offenbaren sie ihre inner- sten Geheimnisse. Es gab eine alte Frau, die meinte, dass sie es zutiefst bereue, ihren Mann nicht betrogen zu haben, denn er habe sie selbst mit ihrer Ziehtochter betrogen. Es gab auch eine 96-jährige Frau, die mich damit empfang, dass ich mich gleich verdrücken solle. Als sie merkte, dass ich ihr vom ganzen Herzen helfen möchte und ihr Fragen stellte, veränderte sie sich, wurde taktvoll und sagte auf einmal: „Maria, Sie sind so nett zu mir, sie waschen mich jeden Morgen – wenn Sie alt werden, dann werde ich Sie waschen.” Trotz den Erfolgserlebnissen im Ausland und der höheren Be- zahlung fällt es den meisten Pflegern schwer, die Fernbusse zu besteigen: „Wir fahren, weil wir gezwungen sind”, sagt Hedwig Basa. „Ich lernte Kleidungsmacher in Mohatsch und arbeitete bei einer belgischen Firma, bis sie geschlossen wurde. In der Zwischenzeit wurden unsere Tochter und unser Sohn geboren; wir bauten und brauchten Geld. Mein Mann ist Zimmermann, mit SoNNTAGSBLATT