Sonntagsblatt 1/2018 | Page 13

Im Zusammenhang mit den Gründen der Vertreibung kam die Frage auf, was mit denen passiert ist, die zu Mitgliedern des Volksbundes geworden sind. Darauf antwortend erzählt Frau Marchut, dass der Eintritt zwar freiwillig war, allerdings wisse man über die privaten Motivationen der Einzelnen nichts, da das voll- ständige Archiv des Volksbundes gegen Ende des Zweiten Welt- kriegs total zerstört wurde. Damit in Zusammenhang erwähnt sie, dass man bei der Zusammenstellung der Vertreibungslisten versucht hat die Volksbundlisten eigenwillig und spontan neu zu verfassen. Koloman Brenner meint, dass die Geschichtswissen- schaft in der Beurteilung des Volksbundes sich mittlerweile auch fortentwickeln müsste. Dabei verwies er auf die Forschungsar- beit von Norbert Spannenberger. Auf die Frage, wie das Thema „Vertreibung” in der Literatur der Ungarndeutschen erscheint, antwortete Herr Brenner so: Anfang der 1950er Jahre gab es sie praktisch nicht, weil, wenn es was gegeben hätte, wäre alles in den Schubläden liegen geblieben wäre, deswegen weiß auch keiner von ihnen; seit dem System- wechsel gibt es erneut eine ungarndeutsche Literatur, die die Vertreibung als eine Art Trauma charakterisiert. Herr Manherz erinnerte an die 1987 unterzeichnete kulturelle Vereinbarung, die er für einen Meilenstein im erneuten Ausbau der Beziehungen hält. In der Rákosi-Ära hat man sich um die Unterdrückung der deut- schen Sprache bemüht, was zum Sprachschwund grundsätzlich beitrug. Laut Professor Manherz bildeten dabei die Bergbau- siedlungen eine Ausnahme, da es dort keine Vertreibun g gab. In den Randgebieten liegenden ungarndeutschen Ortschaften hin- gegen wagten die Leute nicht einmal Deutsch zu sprechen, was zum totalen Schwund der Dialekte geführt hat. Krisztina Schlach- ta ergänzte, dass ungefähr die Hälfte der Ungarndeutschen ver- trieben wurde, wobei es zur Trennung von einem Großteil der Familien gekommen ist, was wiederum zum Besuch der Vertrie- benen in der alten Heimat geführt hat, allerdings erst, nachdem Imre Nagy an die Macht kam. Dieser Prozess kam wegen der Revolution ins Stocken, ging aber nach 1958 wieder weiter. Von 1961 an erweckten diese Verwandtenbesuche auch das Interes- se des Staatssicherheitsdienstes. Frau Schlachta beschreibt die- se Besuche als eine wahre Fundgrube in der Lebensgeschichte der Ungarndeutschen. Dieses „Angebot” bereicherte später die Ausreise der in Ungarn gebliebenen Ungarndeutschen. Hier muss auch gesagt werden, dass die übertriebene „Wachsamkeit” des Staatssicherheitsdienstes oft zu unbegründeten Übergriffen geführt hat. Die Teilnehmer des Rundtischgesprächs einigten sich, dass es im Bildungsbereich sehr viel Nachholpotenzial liegt, da in den Schulbüchern für Grundschüler die Vertreibung nicht einmal er- wähnt wird, in denen für Mittelschüler wird das Thema nur ober- flächlich behandelt. Das ist der Grund dafür, dass die jüngeren Generationen über diesen Teil der Geschichte nicht unbedingt erfahren. Wenn man anhand der Anzahl von Wortmeldungen in der Dis- kussionsrunde urteilen darf, dann ist dieses Rundtischgespräch recht erfolgreich verlaufen. Es wäre wichtig, wenn es in der Zu- kunft noch mehr solche Gespräche gäbe. Man muss diesen Ab- schnitt der Geschichte sehr gründlich aufarbeiten, um dieses Trauma abschließen zu können, mit dem Ziel, sich auf die Her- ausforderungen des 21. Jahrhunderts konzentrieren zu können. Dabei darf man die Leiden und die eigene Verantwortung nicht vergessen, allerdings wäre es ein Fehler, sich auch weiterhin in der Rolle des Opfers zu verharren. Vor allem aus Gründen des Fortbestands der Ungarndeutschen wäre es enorm wichtig, sich auch mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu be- schäftigen. sonntagsblatt Die Statue von Imre Nagy beim Parlament (Foto: mapio.net) Zeit zum Umdenken Ein Kommentar zum Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen Von Patrik Schwarcz-Kiefer Der seit 2012 staatlich anerkannte Gedenktag der Verschlep- pung und Vertreibung der Ungarndeutschen ermöglicht den un- garischen Staatsbürgern, so auch den Ungarndeutschen, dass man sich würdevoll an die Schicksalsschläge, die für uns die Ver- treibung, die Entrechtung bedeuten, erinnert. Bis zum heutigen Tag konnte man den Verlust, den die Vertreibung ausgelöst hat, nicht verschmerzen und nicht verarbeiten: Beinahe jeder zweite Ungarndeutsche wurde vertrieben, und damit wurden die ge- schlossenen deutschen Siedlungsgebiete des Landes aufgebro- chen, die zuvor als Basis der ungarländischen deutschen Min- derheit gedient haben. Die Deutschen wurden quasi überall eine Minderheit, und dieser Umstand war und ist sehr gut für die As- similationsprozesse, die bis heute vor unseren Augen ablaufen. Der erste Schritt der Verarbeitung des Traumas ist, dass wir uns mit ihm auseinandersetzen. Wir müssen uns mit Franz Basch, dem Volksbund, den in der Waffen-SS und Wehrmacht dienen- den Vätern, Großvätern und Urgroßvätern auseinandersetzen. Wir müssen uns mit den Opfern, die entrechtet in Viehwagons in die zerstörten Besatzungszonen Deutschlands deportiert wurden und dort ein neues Leben beginnen mussten, auch auseinander- setzen. Und nicht zuletzt, wir müssen uns mit den Verbliebenen und auch mit uns selbst auseinandersetzen. Und die Verantwortlichen auch. Solange die „Staatsmänner“, die an der Vertreibung und Entrechtung der Ungarndeutschen teil- genommen haben, einen festen Platz im ungarischen nationalen Pantheon haben, können wir die Geschichte nicht aufarbeiten und nicht damit abschließen. Der Kommunist Imre Nagy, der rechtsradikale Endre Bajcsy-Zsilinszky, der der Kleinlandwirten- partei angehörende József Antall sen. und viele andere, nach denen Straßen und Plätze benannt wurden und werden, hatten einen großen Anteil an der Diffamierung der Ungarndeutschen, sie haben versucht unsere Existenz zu vernichten. Trotzdem werden sie verehrt. Am 8. April wählt Ungarn ein neues Parlament. Wir hoffen, dass die Zusammensetzung des Ungarischen Landtags und dadurch der Regierung so sein wird, dass dieser Teil der ungarischen Er- innerungspolitik umgedacht wird. Was für eine Schande ist es, dass die ungarndeutschen Abgeordneten (egal, ob sie über Par- teilisten oder über die Deutsche Liste ins Parlament gelangen) in einem Haus arbeiten müssen, dessen imposantes Gebäude von zwei bekannten deutschfeindlichen Politikern umrandet wird: An der Donauseite befindet sich der József-Antall sen.-Kai und aus der Richtung des Freiheitsplatzes blickt die Statue von Imre Nagy auf das Parlament… 13