Im Zusammenhang mit den Gründen der Vertreibung kam die
Frage auf, was mit denen passiert ist, die zu Mitgliedern des
Volksbundes geworden sind. Darauf antwortend erzählt Frau
Marchut, dass der Eintritt zwar freiwillig war, allerdings wisse man
über die privaten Motivationen der Einzelnen nichts, da das voll-
ständige Archiv des Volksbundes gegen Ende des Zweiten Welt-
kriegs total zerstört wurde. Damit in Zusammenhang erwähnt
sie, dass man bei der Zusammenstellung der Vertreibungslisten
versucht hat die Volksbundlisten eigenwillig und spontan neu zu
verfassen. Koloman Brenner meint, dass die Geschichtswissen-
schaft in der Beurteilung des Volksbundes sich mittlerweile auch
fortentwickeln müsste. Dabei verwies er auf die Forschungsar-
beit von Norbert Spannenberger.
Auf die Frage, wie das Thema „Vertreibung” in der Literatur der
Ungarndeutschen erscheint, antwortete Herr Brenner so: Anfang
der 1950er Jahre gab es sie praktisch nicht, weil, wenn es was
gegeben hätte, wäre alles in den Schubläden liegen geblieben
wäre, deswegen weiß auch keiner von ihnen; seit dem System-
wechsel gibt es erneut eine ungarndeutsche Literatur, die die
Vertreibung als eine Art Trauma charakterisiert. Herr Manherz
erinnerte an die 1987 unterzeichnete kulturelle Vereinbarung, die
er für einen Meilenstein im erneuten Ausbau der Beziehungen
hält.
In der Rákosi-Ära hat man sich um die Unterdrückung der deut-
schen Sprache bemüht, was zum Sprachschwund grundsätzlich
beitrug. Laut Professor Manherz bildeten dabei die Bergbau-
siedlungen eine Ausnahme, da es dort keine Vertreibun g gab. In
den Randgebieten liegenden ungarndeutschen Ortschaften hin-
gegen wagten die Leute nicht einmal Deutsch zu sprechen, was
zum totalen Schwund der Dialekte geführt hat. Krisztina Schlach-
ta ergänzte, dass ungefähr die Hälfte der Ungarndeutschen ver-
trieben wurde, wobei es zur Trennung von einem Großteil der
Familien gekommen ist, was wiederum zum Besuch der Vertrie-
benen in der alten Heimat geführt hat, allerdings erst, nachdem
Imre Nagy an die Macht kam. Dieser Prozess kam wegen der
Revolution ins Stocken, ging aber nach 1958 wieder weiter. Von
1961 an erweckten diese Verwandtenbesuche auch das Interes-
se des Staatssicherheitsdienstes. Frau Schlachta beschreibt die-
se Besuche als eine wahre Fundgrube in der Lebensgeschichte
der Ungarndeutschen. Dieses „Angebot” bereicherte später die
Ausreise der in Ungarn gebliebenen Ungarndeutschen. Hier
muss auch gesagt werden, dass die übertriebene „Wachsamkeit”
des Staatssicherheitsdienstes oft zu unbegründeten Übergriffen
geführt hat.
Die Teilnehmer des Rundtischgesprächs einigten sich, dass es
im Bildungsbereich sehr viel Nachholpotenzial liegt, da in den
Schulbüchern für Grundschüler die Vertreibung nicht einmal er-
wähnt wird, in denen für Mittelschüler wird das Thema nur ober-
flächlich behandelt. Das ist der Grund dafür, dass die jüngeren
Generationen über diesen Teil der Geschichte nicht unbedingt
erfahren.
Wenn man anhand der Anzahl von Wortmeldungen in der Dis-
kussionsrunde urteilen darf, dann ist dieses Rundtischgespräch
recht erfolgreich verlaufen. Es wäre wichtig, wenn es in der Zu-
kunft noch mehr solche Gespräche gäbe. Man muss diesen Ab-
schnitt der Geschichte sehr gründlich aufarbeiten, um dieses
Trauma abschließen zu können, mit dem Ziel, sich auf die Her-
ausforderungen des 21. Jahrhunderts konzentrieren zu können.
Dabei darf man die Leiden und die eigene Verantwortung nicht
vergessen, allerdings wäre es ein Fehler, sich auch weiterhin in
der Rolle des Opfers zu verharren. Vor allem aus Gründen des
Fortbestands der Ungarndeutschen wäre es enorm wichtig, sich
auch mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu be-
schäftigen.
sonntagsblatt
Die Statue von Imre Nagy beim Parlament (Foto: mapio.net)
Zeit zum Umdenken
Ein Kommentar zum Gedenktag der
Vertreibung der Ungarndeutschen
Von Patrik Schwarcz-Kiefer
Der seit 2012 staatlich anerkannte Gedenktag der Verschlep-
pung und Vertreibung der Ungarndeutschen ermöglicht den un-
garischen Staatsbürgern, so auch den Ungarndeutschen, dass
man sich würdevoll an die Schicksalsschläge, die für uns die Ver-
treibung, die Entrechtung bedeuten, erinnert. Bis zum heutigen
Tag konnte man den Verlust, den die Vertreibung ausgelöst hat,
nicht verschmerzen und nicht verarbeiten: Beinahe jeder zweite
Ungarndeutsche wurde vertrieben, und damit wurden die ge-
schlossenen deutschen Siedlungsgebiete des Landes aufgebro-
chen, die zuvor als Basis der ungarländischen deutschen Min-
derheit gedient haben. Die Deutschen wurden quasi überall eine
Minderheit, und dieser Umstand war und ist sehr gut für die As-
similationsprozesse, die bis heute vor unseren Augen ablaufen.
Der erste Schritt der Verarbeitung des Traumas ist, dass wir uns
mit ihm auseinandersetzen. Wir müssen uns mit Franz Basch,
dem Volksbund, den in der Waffen-SS und Wehrmacht dienen-
den Vätern, Großvätern und Urgroßvätern auseinandersetzen.
Wir müssen uns mit den Opfern, die entrechtet in Viehwagons in
die zerstörten Besatzungszonen Deutschlands deportiert wurden
und dort ein neues Leben beginnen mussten, auch auseinander-
setzen. Und nicht zuletzt, wir müssen uns mit den Verbliebenen
und auch mit uns selbst auseinandersetzen.
Und die Verantwortlichen auch. Solange die „Staatsmänner“, die
an der Vertreibung und Entrechtung der Ungarndeutschen teil-
genommen haben, einen festen Platz im ungarischen nationalen
Pantheon haben, können wir die Geschichte nicht aufarbeiten
und nicht damit abschließen. Der Kommunist Imre Nagy, der
rechtsradikale Endre Bajcsy-Zsilinszky, der der Kleinlandwirten-
partei angehörende József Antall sen. und viele andere, nach
denen Straßen und Plätze benannt wurden und werden, hatten
einen großen Anteil an der Diffamierung der Ungarndeutschen,
sie haben versucht unsere Existenz zu vernichten. Trotzdem
werden sie verehrt.
Am 8. April wählt Ungarn ein neues Parlament. Wir hoffen, dass
die Zusammensetzung des Ungarischen Landtags und dadurch
der Regierung so sein wird, dass dieser Teil der ungarischen Er-
innerungspolitik umgedacht wird. Was für eine Schande ist es,
dass die ungarndeutschen Abgeordneten (egal, ob sie über Par-
teilisten oder über die Deutsche Liste ins Parlament gelangen)
in einem Haus arbeiten müssen, dessen imposantes Gebäude
von zwei bekannten deutschfeindlichen Politikern umrandet wird:
An der Donauseite befindet sich der József-Antall sen.-Kai und
aus der Richtung des Freiheitsplatzes blickt die Statue von Imre
Nagy auf das Parlament…
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