Sonntagsblatt 1/2016 | Page 16

alle Menschen – inner- und außerhalb Europas – das grundsätzliche Recht hätten , in ihrer eigenen Heimat zu leben . „ Im Namen der ungarischen Regierung wünsche ich unseren in Ungarn lebenden deutschen Mitbürgern , dass sie das Andenken ihrer Ahnen bewahren und ihre Kinder als in der deutschen Kultur aufgewachsene gute Ungarn erziehen sollen . Ehrfurcht den Opfern . Ge - bührende Erinnerung an die Leidenden . Ein Verneigen vor der Erinnerung an die Unschuldigen . Anerkennung und Ruhm jenen , die den in Not geratenen Ungarndeutschen geholfen hatten . Alles Gute unseren mit uns zusammenlebenden deutschen Mitbür - gern !”, schloss er seine Ansprache .

❖ Recht auf Heimat für alle

Gedenktag der Verschleppung und Vertreibung im Zeichen der Aktualpolitik
Von Richard Guth
Wudersch / Budaörs – 19 . 01 . 2016 Das Kirchenvolk nimmt seinen Platz in der Kirche Johannes von Nepomuk zu Wudersch ein , das Gotteshaus füllt sich rasch . Auch in der Sakristei ist voller Betrieb , Geistliche , Messdiener , Übersetzer , Laiendarsteller und Sicher - heits leute warten gespannt auf den Beginn der Gedenkver an - staltung . Sechs Geistliche , in überwiegender Mehrheit Madjaren , was unsere Not auch im kirchlichen Bereich demonstriert , betreten den Altarraum . Der Pfarrer von Wudersch begrüßt auf Un - garisch Gemeindemitglieder und Gäste , sonst fehlt das ungarische Wort an diesem Tag aus der katholischen Eucharistiefeier gänzlich . Katholisch , obwohl ein Teil der Ungarndeutschen protestantischen Glaubens ist . Es bleibt zu hoffen , dass demnächst in der Person eines evangelischen Geistlichen und im Zeichen der im Mutterland so selbstverständlichen Ökumene auch sie vertreten werden . Zum zweiten Mal zelebriert die Gedenkmesse ein Deut - scher aus dem fernen Nordwesten Deutschlands . In den viereinhalb Dienstjahren ist Pfarrer Stratmann aber ein wahrer Freund der Ungarndeutschen geworden , der sich stets für Ver ständ nis und Toleranz in einer zunehmend intoleranten Welt eintritt . Toleranz , Verständnis und Erinnerung – diese drei Begriffe standen auch im Mittelpunkt der bis auf zwei Reden ungarischsprachigen Gedenkveranstaltung , die der Heiligen Messe folgte . Prominente LdU-Vertreter und ungarndeutsche Laiendarsteller stellten den Leidensweg der Ungarndeutschen nach , in ungarischer Sprache . Hier wäre ein bilinguales Programm zumindest als Zeichen geboten gewesen . LdU-Vorsitzender Otto Heinek und der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten , Hartmut Koschyk , blickten auf das Ereignis im historischen Kontext , betonten die Bedeutung der Erinnerung , aber wiesen darauf hin , dass die Ungarndeutschen mit einem modernen Selbstbewusstsein ihre Zukunft gestalten sollten .
Mehr Sprengkraft enthielten die Reden des Bürger meis ters von Wudersch , Tho mas Wittinghoff , und von Mi - nisterpräsident Viktor Orbán .
Thomas Wittinghoff ging in seiner ungarischsprachigen Re de von der eigenen Famili - en geschichte aus , betonte als Kommunalpolitiker die guten städtepartnerschaftlichen Beziehungen , fand aber auch deutlich Worte : Anstelle sich der Vergangenheit und Verantwortung zu stellen hätten sich Politik und Gesellschaft 1945 der Deutschen entledigt . Damals nahm Deutsch - land diese Ver triebenen auf wie heu te die Bür - gerkriegsflüchtlinge , dafür ver die ne es Respekt , stell te der liberale Bür - ger meister eine Analo - gie her und setzte deutliche Akzente vor der Rede von Premier Or bán .
Viktor Orbán , der neben den Minderheiten- und Kirchenver - tretern und dem Beauftragten Hartmut Koschyk auch den ungarischen Verfassungspräsidenten und den Präsidenten der Unga - rischen Kunstakademie ( MMA ) begrüßte , führte in der historischen Retroperspektive aus , dass jederzeit , als Ungarn seine Sou - veränität im 20 . Jahrhundert verlor , verstieß , plünderte aus und vertrieb es seine eigenen Bürger , woraus Orbán den Schluss zog , dass nur eine starke Regierung eines souveränen Landes imstande sei , seine Bürger gegen fremde Mächte und ihre inländischen Schergen zu verteidigen . Orbán räumte ein , dass die Bezeichnung „ kitelepítés ” ( Aussiedlung ) der Wahrheit sehr fern gestanden wä - re , denn das sei eine Ausplünderung und Vertreibung der ungarländischen Schwaben gewesen , womit er klare Akzente setzte . Es seien Zeiten gewesen , als sich Europa den wahnsinnigen Ideen hätte nicht widersetzen können , zuerst sei es den Verlockungen des Nationalsozialismus und dann dem internationalen Sozialis - mus erlegen . Beide hätten gemeinsam gehabt , dass sie im Zeichen der Kolektivschuld ganze Völkerschaften in Viehwaggons zu treiben imstande waren , was viele Zuhörer als eine Relativierung ungarischer Schuld verstanden .
Ungarn habe den Schwaben viel zu verdanken , Ungarn wäre viel ärmer , wenn sie all das , was sie schufen , 1946 mitgenommen hätten , fuhr der Ministerpräsident fort , und versuchte einen Gegenwartsbezug zum historischen Ereignis herzustellen . Denn Europas Sicherheit sei bedroht , auch die auf christliche Werte basierende Lebensform , die wir verteidigen müssten , so Orbán . „ Der gute Gott möge uns (…) genug Kraft verleihen , damit wir das Recht , in der Heimat bleiben zu können , auch außerhalb Europas durchsetzen können ”, denn man soll das Recht haben , dort zu leben , wo man geboren wurde , so die ungewöhnliche Analogie von Viktor Orbán zwischen der gegenwärtigen Flücht - lingskrise und dem Schicksal der Ungarndeutschen 70 Jahre zuvor . Auch auf innenpolitische Aspekte ging der Premier ein : Man freue sich , dass man sich nach 20 wirren , postkommunistischen Jahren für die bürgerliche Einrichtung des Staates gestimmt hätten , die jedem das gewähre , was einem gebühre . Danach folgten einige Zahlen , die die Erfolge ungarischer Minderheitenpolitik demonstrieren sollten : In den letzten vier Jahren hätte sich die Zahl deutscher Schulen verfünffacht , die Schülerzahlen verdreifacht , man zähle fast 200 000 Bekenntnisdeutsche .
Die Wuderscher Johanneskirche leert sich , die Sicherheitsleute werden abgezogen , die Kameras abgebaut . Das Gedenken geht an diesem Ort zu Ende . Das Medieninteresse war groß , wie man auch der Berichterstattung später wahrnehmen konnte . Die Frage bleibt dennoch : Was nimmt man davon als Nichtbetroffener mit ? Als Lehre für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln jenseits des
16