Sonntagsblatt 1/2016 | Page 15

Kranzniederlegung am Landesdenkmal der Vertreibung der Ungarndeutschen im alten Friedhof von Wudersch
„ Nach meiner Heimat zieht’ s mich wieder, es ist die alte Heimat noch, dieselbe Luft, dieselben frohen Lieder, und alles ist ein and- res doch” – es war ein herzergreifender Moment, als diese alte ungarndeutsche Volkweise bei der Kranzniederlegung erklang. Hunderte versammelten sich im alten Friedhof von Wudersch, um der Opfer der 70 Jahre zurückliegenden Geschehnisse zu gedenken. Viktor Orbán, Ministerpräsident Ungarns, LdU-Vorsitzender Otto Heinek mit Parlamentssprecher der Ungarndeutschen, Em- merich Ritter, Hartmut Koschyk, Bundesbeauftragter für Aus- sied lerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Manfred P. Em- mes, Gesandter der deutschen Botschaft Budapest, Barna bás Lenkovics, Präsident des Verfassungsgerichts und Verfassungs- richter István Stumpf, István Jakab, Vizepräsident des ungarischen Parlaments, Zoltán Balog, Minister für Humanressourcen, Mária Haszonics-Ádám, Direktorin des Amtes des Staatspräsi- denten, Oberstaatsanwalt Ferenc Szabó, Bürgermeister Tamás Wittinghoff, Parlamentsabgeordneter Zalán Zsolt Csenger und zahlreiche Ungarndeutsche legten Kränze der Erinnerung nieder.
Deutschsprachige heilige Messe mit anschließender Gedenk- veranstaltung in der Pfarrkirche St. Johannes Nepomuk
Nach der Kranzniederlegung versammelten sich viele Hunderte zu der deutschsprachigen heiligen Messe. Der Pfarrer der Bu- dapester deutschen katholischen Gemeinde, Gregor Stratmann hob in seiner Predigt die Wichtigkeit des Glaubens im Leben der Ungarndeutschen hervor: „ Dass die Kranzniederlegung in der Kirche fortgesetzt wird, erinnert uns daran, dass auch die Vertriebenen damals keine andere Adresse mehr für ihre Klagen über Unrecht an Leib und Seele gefunden haben, als sich an Gott zu wenden.” Wir müssten bereit sein, uns der Vergangenheit zu stellen, und wir müssten die Erinnerungen wach halten, um daraus zu lernen, so der Pfarrer.
Wudersch musste vor 70 Jahren den traurigsten Tag seiner Geschichte erleben. Denkmal, Friedenspark und Gräber bewahren die Namen der Opfer von vernunftlosem Gräuel”, sagte in seiner Gedenkansprache Tamás Wittinghoff, der Bürgermeister der Stadt. „ Ich habe mir oftmals die Frage gestellt, was für Unge- heuer denn in der menschlichen Seele wohl leben? Die Antwort weiß ich zwar immer noch nicht, allerdings muss unser Ziel sein, dass wir daraus lernen.” Wittinghoff bedankte sich bei Bretzfeld, der deutschen Partnergemeinde von Wudersch, dass diese die Ungarndeutschen vor sieben Jahrzehnten aufnahm, und bei ganz Deutschland, dass es damals den Vertriebenen – auch wenn es nach dem Zweiten Weltkrieg in Ruinen lag – beispielhafte Huma- nität entgegenbrachte.
Nach der Gedenkansprache Wittinghoffs trat ein junger Mann ans Mikrofon und las über das Leiden seines Urgroßvaters, Michael Frühwirt aus Wetschesch vor. Anschließend riefen kurze, inszenierte Situationen und Vorlesungen Momente aus dem Le- ben der Vertriebenen Wuderscher wach.
„ Mein Vater war der Meinung, dass wir keine Sünde begangen haben”, zitierte LdU-Vorsitzender Otto Heinek das Lebenstrauma einer Tolnauer Frau, die erst 12 war, als sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester vertrieben wurde. Ihre einzige „ Sünde” sei gewesen, so Heinek, dass sie Deutsche waren und ein Vermögen hatten, das man ihnen wegnehmen konnte. Es gebe kaum eine un- garn deutsche Familie, die vor den Gräueltaten vor 70 Jahren verschont geblieben wäre. Das Gemeinsame an ihnen sei, dass die es alle nicht verstünden, wie ihre geliebte Heimat mit ihnen so umgehen konnte. Diese Traumata müssten in einer neu definierten
Erin nerungskultur der Ungarndeutschen aufgearbeitet werden. Die wichtigste Aufgabe der deutschen Nationalität in Ungarn sei die Bewahrung von Muttersprache und kulturellem Erbe, sowie das Aufbauen eines modernen ungarndeutschen Selbstbildes. „ Keine leichte Aufgabe”, meinte Otto Heinek, „ aber wenn wir zu- sammenhalten, schaffen wir das.”
Auch Bundesbeauftragter Hartmut Koschyk hielt in der Kir- che eine Gedenkansprache und überbrachte den Ungarndeut- schen die Grüße von Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Steinmeier und Innenminister de Maizière. „ Kein Unrecht rechtfertigt anderes Unrecht”, zitierte Koschyk Altbundespräsidenten Roman Herzog. Er sprach sich dafür aus, dass ehrliche Erin- nerung von besonderer Bedeutung im gesamteuropäischen Verständnis sei. Die Bundesrepublik Deutschland sei Parlament, Regierung und Bevölkerung Ungarns für den vorbildlichen Um- gang mit Vertreibung und Deportation dankbar, und es freue Koschyk, dass Deutschlands und Ungarns Beziehungen ehrlich, freundschaftlich und vertraulich seien. Es sei auch erfreulich, dass sich die ungarndeutsche Gemeinschaft dank der Landesselbst- verwaltung der Ungarndeutschen permanent entwickele. Bundes- beauftragter Koschyk begrüße, dass die Mehrheitsbevölkerung Ungarns die Nationalitäten als Bereicherung ansähe, und dass sich die Mehrheitsbevölkerung auch bereichern lassen wolle. Dies verstünde er unter europäischem Minderheitenverständnis.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán wies in seiner Rede unter anderem auch darauf hin, dass man vor siebzig Jahren offiziell von „ Aussiedlung” gesprochen habe, es habe sich aber um Beraubung der Ungarndeutschen ihres Hauses und ihrer Heimat gehandelt. Niemand hätte Widerstand geleistet, ganze Völker seien in Viehwagons getrieben. Der Ministerpräsident betonte, die ungarndeutsche Gemeinschaft sei unantastbarer Teil der ungarischen Gesellschaft, die während der Jahrhunderte mit den Ungarn zusammen für die gemeinsame Heimat gekämpft, sowie auch das Land nach den Weltkriegen neu aufgebaut hätte. „ Die Ungarndeutschen können bis auf den heutigen Tag eine Kul- tur die ihrige nennen, deren Fäden tief in das Gewebe der ungarischen Kultur eingeflochten sind. Wenn wir diese Fäden herauszögen, so würde das gesamte Gewebe zerfallen. Die ungarische schwäbische Gemeinschaft stellt einen organischen und unveräußerlichen Bestandteil der ungarischen Kultur dar. Wenn vor siebzig Jahren die Vertriebenen all das mitgenommen hätten, was die Ungarndeutschen oder Menschen deutscher Abstammung seit ihrer Ansiedlung für die ungarische Wirtschaft und Kultur getan hatten, dann wäre Ungarn heute bedeutend ärmer. Sie hätten zum Beispiel unsere erste nationale Literaturgeschichte – von Ferenc Toldy – mitnehmen können, unter anderem auch das Par- lament – Imre Steindl – und das Gebäude des Kunsthistorischen Museums – Ödön Lechner – sowie einen bedeutenden Teil des ungarischen Druckwesens, Maschinenbaus und der Medizin. Ungarn war einst die Heimat von mehr als einer halben Million von Familien, die auf ihre deutschen Wurzeln stolz sowie fleißig waren und auf ihren eigenen Füßen standen.(…) Es hat Millio- nen von Menschenleben gekostet, bis wir erkannt haben: Wir, die Nationen Europas, sind gemeinsam stark. Der entscheidende Grund für die Vereinigung Europas war gerade, das derart entsetzliche Dinge nie wieder vorkommen dürfen. Die europäische Zusammenarbeit war gerade aus der Erkenntnis geboren worden, dass uns, europäische Nationen, viel mehr Dinge verbinden als trennen”, so Orbán. Heutzutage zerfalle aber die Sicherheit des Kontinents von Tag zu Tag, die auf christlicher Kultur basierende Lebensweise sei gefährdet. Heutzutage sei die Frage, ob wir Euro- pa beschützen können, und ob es Europa bald überhaupt geben wird. In seinem Schlusswort betonte der Ministerpräsident, dass
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