Neue Debatte - Beiheft #006 - 04/2017 Über die Korruption in Frankreich | Page 14

der Exklusion, die daraus folgt, als War- nung und als Drohung dient: die Obdach- losen sind nicht auf der Straße, weil wir ihnen keine Wohnung geben können, sondern weil sie als Schreckgespenst für uns dienen, damit wir spuren, auf unse- rem Platz bleiben, damit wir unser Schick- sal akzeptieren, weil wir fürchten, dass wir alles verlieren, wenn wir für unsere Rechte kämpfen. Die Obdachlosen werden, so gesehen, instrumentalisiert zur Schaffung der gesellschaftlichen Akzeptanz. Der soziale Krieg wird kommen Manchmal muss man Verbrecher nicht frontal, sondern von der Seite angreifen, ganz unerwartet: Al Capone, zum Beispiel, hatte die Polizei von Chicago derart kor- rumpiert, dass es unmöglich war, ihn des Mordes oder irgendeines anderen großen Verbrechens anzuklagen, das doch allen bekannt war. Man hat ihn drangekriegt, weil er seine Steuern nicht bezahlt hat. Vielleicht kann man heute den Kapitalis- mus als Ideologie zu Fall bringen, mitsamt der Oligarchie, die ihn als Herrschaftssys- tem erhält, indem man gegen die Korrup- tion kämpft. Vielleicht. Aber ich glaube nicht daran. Das reicht nicht. Wir sind im sozialen Krieg: das stammt nicht von mir, sondern von François Fillon selbst, aus einer Rede vor den französi- schen Arbeitgebern, genauer ab Minute 15 und 28 Sekunden, in der berühmten Passage zum „Blitzkrieg“ (Überfall des Deutschen Reichs gegen Frankreich und UK von 1940): „Ich will, dass am 1. Juli 2017 die zwei o- der drei für Reformen zuständigen Mini- sterien: Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, Arbeit, vor allem … mit fertigen Texten ankommen … und, dass sie dann in 14 einer Art Blitzkrieg … die sechs oder sie- ben Grundsatzreformen, die das Wirt- schafts-und Arbeitsklima in unserem Land verändern werden, im Parlament durchbringen, mit allen Mitteln, die ihnen die Verfassung der V. Republik bietet – per Erlaß, mit Blockabstimmung[I], mit dem Artikel 49.3.[II], also alles, was not- wendig ist – sie sollen das in zwei Mona- ten durchziehen, ohne Sommerpause. Da- zu gehört für mich, dass ist klar, die Ab- schaffung der 35-Stundenwoche, der ge- setzlichen Arbeitszeitdauer und die Aus- handlung von Arbeitsfragen auf Betriebs- ebene; das ist das neue Arbeitsrecht … und die Kapitalsteuerreform als Voraus- setzung für die Ankurbelung der Wirt- schaft in unserem Land …“ [I] Vote bloqué (oder vote unique), wört- lich Blockabstimmung, ist eine Prozedur gemäss Art. 44, Abs. 3 der französischen Verfassung, mit Hilfe derer die Regierung vom Parlament verlangen kann über eine Gesetzesvorlage als Gesamtpaket mit „Ja“ oder „Nein“ abzustimmen ohne Än- derungen zuzulassen. [II] Der Artikel 49.3. der französischen Ver- fassung erlaubt es der Regierung ein Ge- setz ohne Abstimmung im Parlament durchzusetzen. Das Parlament könnte die- ser zeitweiligen Entmachtung nur durch einen Misstrauensantrag gegen die Regie- rung entgegentreten. In dieser Rede erklärt Fillon ebenfalls wie er gedenkt im September 2017 ein Refe- rendum zu organisieren, damit die Span- nung rund um die Präsidentschaftswahlen aufrechterhalten bleibt und die Aufmerk- samkeit sich auf Fragen des Referendums konzentriert, um so jegliche Ansätze des sozialen Protests einzudämmen.