Neue Debatte - Beiheft #005 - 04/2017 Christliches Abendland - Nicht verteidigungswert! | Page 3
Gibt es überhaupt ein „Christli-
ches Abendland“?
„Christliches Abendland“ kann man offen-
bar dermaßen verzerren, ideologisch pas-
send machen, politisch ausschlachten oder
sich als historisches Ornament zurechtbas-
teln, dass man sich ernstlich fragen muss,
ob es überhaupt so etwas wie ein „christli-
ches Abendland“ gibt beziehungswei-
se jemals gegeben hat.
Ja, es gab dieses „christliche Abendland“,
nur war es etwas ganz anderes, als was
Kirche, Geisteswissenschaften, herrschen-
de Kultur und Sonntagsredner seit Jahr-
hunderten jeweils daraus gemacht haben.
Nur ein ungetrübter Blick in die Geschich-
te kann klären helfen, was sich unter den
großen Schlagworten „Abendland“ und
„christlich“ im frühen und hohen Mittelal-
ter wirklich an glorreicher Wertebildung
abgespielt hat. Vielleicht gelingt es dann
sogar, unbedarften PEGIDA-Mitläufern ein
Licht aufzustecken.
Zusammenbruch und Einstieg in
eine neue Epoche – Das „Abend-
land“ im Westen
Im 4. Jh. n. Chr. hatte sich das Christentum
im damaligen Römischen Reich 3 als Staats-
religion durchgesetzt, wobei es sich in eine
Ost- und eine Westkirche spaltete. Ostrom
mit Konstantinopel 4 als Herrscher- und
Patriarchensitz stellte die eigentliche und
direkte Kontinuität des römischen Imperi-
ums sicher.
Der römische Bischof im Westen (Papst,
Papa = Vater) erklärte sich zum Führer der
gesamten monotheistischen Christenheit
(Petrus–Primat), damit gleichzeitig zum
Stellvertreter des einzigen Gottes – und
somit zum Zentrum der Welt.
Der Westteil des Imperiums mit dem alten
Rom und Italien ging im 4. und 5. Jh. unter.
Der letzte weströmische Kaiser wurde 476
abgesetzt. 17 Jahre später errichten die
Ostgoten ihre Herrschaft und noch einmal
75 Jahre später eroberten die Langobar-
den 5 Italien, bis schließlich nach weiteren
230 Jahren der Frankenkönig Karl 16 , den
sie „den Großen“ nennen, das Langobar-
denreich seinem fränkischen Großreich
einverleibte.
Mit dem Niedergang und Zusammenbruch
des ausgefeilten, weströmischen, Jahr-
hunderte alten Sklavenhalterimperiums
machte die Geschichte in Europas Westen
eine Rolle rückwärts in die frühen Zeiten
der Staatsentstehung aus archaischen,
egalitären Stammesgesellschaften, die in
anderen Weltgegenden, in Asien, im östli-
chen Mittelmeer und im Nahen Osten
schon lange passé waren.
Wie im Verlauf jeder Kultur der frühen
Menschheit stieg nun auch die keltisch-
germanisch-slawische Welt in die Epoche
der Klassengesellschaften, Staatenbildung
und Ausbeutung der großen Masse der
Produzenten auf. Im Westen des Konti-
nents wurde daraus das „Abendland“.
Die keltischen Völker in Westeuropa hat-
ten bereits unter der Herrschaft der Rö-
mer erfahren, was Staat, Verwaltung, Mili-
tär und imperiales, großräumiges Wirt-
schaften bedeuten und waren christlich-
westkirchlich infiziert. Die zu jenen Zeiten
durch Europa ziehenden germanischen
Stämme standen an der Schwelle zu
Reichsgründungen.
Die alten Stammeskulturen, mit ihren dru-
idischen und schamanischen Naturreligio-
nen, mit Priestern und Heiligtümern,
kombiniert mit Götterpathos wie das der
Asen 7 in Walhalla, waren zunächst noch
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