STRATEGIEN GESCHÄFTSMODELLE
zerne absurderweise noch immer ihre Bemühungen und ihr finanzielles Wohl an die aufstrebende Mittelschicht. Und das, obwohl Prahalad und Hart schon vor über einem Jahrzehnt empfohlen hatten, das Wachstum in der sogenannten vierten Schicht der Einkommenspyramide – der breiten, unteren – anzukurbeln.
Tatsächlich war die Enttäuschung über Ausmaß und Wachstum der Mittelschicht in Afrika der wichtigste Grund für Nestlé, sich aus den Märkten zurückzuziehen. In einem Interview mit der „ Financial Times“ erläuterte Cornel Krummenacher, Nestlés CEO für die Region Äquatorialafrika, das Vorgehen des Konzerns: „ Wir dachten, hier könne das nächste Asien entstehen. Doch dann mussten wir feststellen, dass die Mittelschicht in der Region extrem dünn ist und nicht nennenswert wächst … Der Prozess der Verstädterung ist für Produktionsunternehmen normalerweise sehr vorteilhaft. Doch hier leben viele Menschen buchstäblich in Slums, sodass sie kein Geld für Konsum haben.“
Viele der auf die Schwellenländer spezialisierten Investoren, die für ihre Investmententscheidungen das Wachstum der Mittelschicht sehr genau unter die Lupe nehmen, teilen diese pessimistische Einschätzung. Aus einer jüngst vom Pew Research Center veröffentlichten Erhebung geht hervor, dass die Mittelschicht weltweit zwar von 398 Millionen Menschen im Jahr 2001 auf
„ WIR DACHTEN, HIER KÖNNTE DAS NÄCHSTE ASIEN ENTSTEHEN. DIE MITTELSCHICHT WÄCHST ABER KAUM.“
783 Millionen im Jahr 2011 gewachsen ist. Allerdings leben weniger als 6 Prozent dieser 385 Mil- lionen Menschen in Afrika. Die Zahl afrikanischer Arbeiter der Mittelschicht, zu der Pew Menschen mit einem Tageseinkommen zwischen 10 und 20 US-Dollar zählt, hat sich über das gesamte Jahrzehnt kaum ver ändert.
Verschärft wird die Situation noch durch den African Growth und Opportunity Act( AGOA). Das Handelsabkommen aus dem Jahr 2000 zwischen den USA und zahlreichen afrikanischen Staaten erlaubt diesen, mehr als 7000 verschiedene Produkte zollfrei in die USA zu exportieren. Ziel des Abkommens war es, Afrikas Volkswirtschaften zu diversifizieren und ihre Entwicklung zu fördern. Tatsächlich führte es aber dazu, dass viele dieser Länder erheblich in den Abbau von Rohstoffen investierten und am Ende noch weniger diversifiziert waren. So nahmen zwar die Exporte zu, die Entwicklung schritt jedoch nicht voran.
ZWEI STRATEGIEN: PUSH ODER PULL?
Wieso rennen so viele multinationale Konzerne gegen lang bekannte Widernisse in Schwellenmärkten an, während einige Multis und heimische Unternehmen dort erfolgreich sind? Wir glauben, die Antwort verbirgt sich hinter der Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Investitionen. Push-Strategien kommen zustande, weil ihre Urheber bestimmte Prioritäten haben. Sie führen zu Lösungen, die Märkten und Verbrauchern aufgedrückt werden. Pull-Strategien sind im Gegensatz dazu eine Reaktion auf die Bedürfnisse der einfachen Verbraucher. Sie folgen einem vorhandenen Sog. Die Ergebnisse könnten unterschiedlicher kaum sein.
Die meisten Multis hoffen auf den Durchbruch, indem sie den Konsumenten der aufstrebenden Mittelklasse vorhandene Produkte aufdrücken. Mit ihren Produkten reichen sie einen Großteil der bestehenden Kostenstruktur und ihres Arbeitsstils weiter und kommen so zu Preisen, die eine breitere Marktdurchdringung unmöglich machen. Sobald weitere Wettbewerber auf den Markt drängen, stehen diese Unternehmen vor dem Dilemma, sich zwischen geringerem Wachstum oder kleinerer Marge entscheiden zu müssen – und bekommen am Ende beides. Die Wahrheit gelangt schnell ans Licht: Obwohl sie dachten, sie seien Pioniere in einem neuen Markt, haben sie es in Wirklichkeit mit einer endlichen Nachfragebasis zu tun und ringen auf einem stark umkämpften Markt um jeden Prozentpunkt der Anteile.
Die Strategie, die in aufstrebenden Märkten Erfolg verspricht, unterscheidet sich von dieser traditionellen Vorgehensweise in fast jeder Hinsicht. Die Pull-Strategie hat gegenüber dem Push- Ansatz den grundsätzlichen Vorteil, dass ihr Markt feststeht – es gibt keinerlei Unsicherheit, ob die Nachfrage ausreichen wird. Innovatoren ent- wickeln in diesem Fall Produkte, die Menschen in ihr tägliches Leben einbinden wollen. Damit schaffen sie Märkte, die die Basis für nachhaltiges Wachstum und Prosperität bilden.
Unsere Forschungen konzentrieren sich auf Unternehmen, die unerfüllte Bedürfnisse der einfachen Verbraucher erfüllen, anstatt auf der Suche nach möglichst margenstarken Geschäften der Mittelschicht hinterherzujagen. Sie entscheiden
60 HARVARD BUSINESS MANAGER JULI 2017