HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Page 35

Start-ups relevanter werden konnte. Dank einer starken Firmenkultur, die in „Momenten inten - siver Selbstreflexion“, wie Immelt es beschreibt, dazu auffordert, grundlegende Fragen zu stellen, formulierten er und sein Team klug: „Was wäre, wenn GE eine digitales Industrieunternehmen wäre – und was würde daraus folgen?“ Diese Überlegung eröffnete im Bereich des unbekann- ten Unbekannten ein weites Feld, denn bis zu jenem Zeitpunkt hatte noch niemand auch nur die Idee eines digitalen und industriellen Hybrid- unternehmens formuliert. Daraus entstand eine Innovation, die den Konzern revolutioniert hat: die Verknüpfung von Erfahrung in der Herstellung physischer Produkte mit Big Data und modernen Analysefähigkeiten mit dem Ziel, das „Internet der richtig großen Dinge“ anzugehen. Nach Belieben brillante Fragen zu formulieren gelingt Managern leider in etwa so gut wie Blitze herbeizurufen. Was sie aber tun können, ist, die Wahrscheinlichkeit von Geistesblitzen zu erhö- hen; dazu müssen sie wissen, unter welchen Be- dingungen solche Einfälle und Erkenntnisse am ehesten entstehen, und diese Bedingungen aktiv anstreben oder schaffen. Das fängt damit an, Kontakt zu einem möglichst breit gefächerten Spektrum an Menschen zu su- chen und sich möglichst nahbar zu geben, damit die anderen sich nicht scheuen, Ideen und Mei- nungen zu äußern. Bettinger setzt dabei auf eine Reihe von Taktiken. Zum einen spricht er regel - mäßig mit wichtigen Interessengruppen, von den Mitarbeitern über Eigentümer und Analysten bis zu den Kunden, denen er immer die folgende Frage stellt: „Worauf würden Sie sich an meiner Stelle konzentrieren?“ Damit will er Chancen und Bedrohungen aufspüren, an die er selbst noch nicht gedacht hat. Weil die Frage so formuliert ist, dass nicht er, sondern sein Gesprächspartner im Mittelpunkt steht, seien die Menschen viel eher bereit, etwas zu sagen. Bei seinen häufigen Besu- chen der verschiedenen Konzernstandorte sagt er den Beschäftigten, seine größte Herausforderung bestehe darin, dass er in seiner Position isoliert sei, und bittet sie um Hilfe. Damit seine Mitarbeiter keine Informationen zurückhalten und die Dinge nicht schönfärben, fordert er sie zweimal im Mo- nat auf, „kompromisslos ehrliche Berichte“ mit Beobachtungen in fünf Bereichen zu schreiben; eine der Kategorien heißt „Was funktioniert nicht?“. (Seine direkten Untergebenen fordert er wiederum auf, die gleichen Berichte von ihren Mitarbeitern einzufordern.) Um eine kritisch prü- fende Grundeinstellung zu verankern, lädt er jedes Jahr eine Reihe von Mitarbeitern, die ihn auf etwas potenziell Folgenschweres aufmerksam gemacht haben, zu einem Tag in der Zentrale in San Francisco ein – „nicht als Belohnung“, wie er sagt, „sondern als Ermutigung“. „ALS FÜHRUNGSKRAFT KÖNNEN SIE SICH IN EINEN KOKON ZURÜCKZIEHEN, IN DEM ES NUR GUTE NACHRICHTEN GIBT.“ Andere Manager sind vielleicht nicht ganz so gründlich, haben aber ihre eigenen Methoden entwickelt, um versteckte Ideen und Informatio- nen aufzustöbern. In den Anfangsjahren des Inter- nets reiste Marc Benioff um die Welt und ver- suchte im Gespräch mit Dutzenden von völlig unterschiedlichen Menschen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dies führte ihn zu einer Frage, die eine entscheidende unbekannte Unbekannte auf- deckte: „Warum sind nicht alle Enterprise-Soft- ware- Anwendungen so wie Amazon aufgebaut? Warum laden und upgraden wir immer noch Soft- ware, obwohl es das Internet gibt?“ Die Antwort inspirierte ihn zur Gründung des Cloud-Spezia - listen Salesforce, der inzwischen zu einem acht Mil liarden Dollar schweren Unternehmen heran- gewachsen ist. Kein Wunder, dass Benioff und sein oberes Führungsteam heute regelmäßig auf Reisen gehen und nach schwachen strategischen Signalen Ausschau halten. Innerhalb von Sales- force beteiligen sich die Mitglieder des Topteams auch an der firmenweiten Chatgruppe „Airing of Grievances“ – sinngemäß übersetzt: „Beschwer- den loswerden“. Diese Chatgruppe hat den glei- chen Zweck wie Bettingers kompromisslos ehr- lichen Berichte: Sie liefert dem Topmanagement rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche, rohe, unverfälschte Frühwarnsignale in Gestalt von Dingen, die nicht funktionieren, sowie die da- zugehörigen Ursachen. Rod Drury, der in Neuseeland Xero gegründet hat, eines der weltweit wachstumsstärksten Soft- ware-as-a-Service-Unternehmen, nutzt firmen - interne soziale Medien als Plattform für Unterhal- tungen, an denen Mitarbeiter aus allen Bereichen der Firma teilnehmen. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, zu lesen, was andere schreiben, er kommuniziert über diesen Kanal auch die Unter- nehmensstrategie und Marktdaten. Mit seinen Posts fordert er alle im Unternehmen – auch neue Mitarbeiter, die vor zehn Minuten erst angefangen haben – dazu auf, Fragen zu stellen, Perspektiven JULI 2017 HARVARD BUSINESS MANAGER 35