HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Page 34

SCHWERPUNKT KARRIERE A ls CEO eines großen oder auch eines kleinen Unternehmens müssen Sie er- kennen, wann ein radikaler Richtungs- wechsel erforderlich ist; das ist Ihre wichtigste Aufgabe. Sie sind die einzige Person, die einen neuen Kurs vorgeben kann. Doch Ihre Machtposition schnei- det Sie mehr als alle anderen im Unternehmen von entscheidenden Informationen ab – Informatio- nen, die Ihre Annahmen infrage stellen und es Ihnen ermöglichen würden, Bedrohungen und Chancen zu erkennen. So paradox es klingen mag: Die Herausforderungen Ihrer Spitzenposition kön- nen Sie nur bewältigen, wenn Sie sich aus Ihrer Po- sition an der Spitze befreien. Walt Bettinger, Chef des Onlinebrokers Charles Schwab, bezeichnet dieses Dilemma als die größte Herausforderung seines Jobs. „Die Leute sagen Ih- nen nur das, was Sie ihrer Meinung nach hören wollen, und sie haben Angst, Ihnen Dinge zu sa- gen, die Sie womöglich nicht hören wollen“, be- schreibt Bettinger die beiden Aus prägungsformen des Problems. Grundsätzlich betreffe das Thema alle Führungsebenen, an der Unternehmensspitze zeige es sich Bettinger zufolge aber am stärksten. Nandan Nilekani, Mitgründer des IT-Dienst - leisters Infosys und seit Kurzem ein hochrangiger Vertreter der indischen Regierung, weiß, wie ge- fährlich dieses Phänomen ist. „Als Führungskraft können Sie sich in einen Kokon zurückziehen, in dem es nur gute Nachrichten gibt. Jeder sagt Ih- nen: ‚Alles in Ordnung. Kein Problem.‘ Und einen Tag später läuft alles aus dem Ruder.“ Während interne Probleme nur schwer in den CEO-Kokon vordringen können, ist es für Signale von außer- halb des Unternehmens sogar praktisch unmög- lich – besonders für schwache Frühwarn signale. In einer Zeit, in der sich das Markt- und Wett - bewerbsumfeld schnell verändert, stellt dies ein echtes Problem dar. Wenn sich eine grund legende Veränderung abzeichnet, sind die ersten Anzei- chen in der Regel in wenig eindeutigen Ereignis- sen am Rand des Markts zu finden. Ich habe in den vergangenen Jahren mehr als 200 Forschungsinterviews mit ranghohen Mana- gern geführt und bin kaum jemandem begegnet, der das Gefühl hatte, nicht von diesem Problem betroffen zu sein (das gilt auch für Gründer relativ kleiner Unternehmen). Interessanter ist aber, dass in besonders innovationsstarken Unternehmen die Chefs sich auf diese Schwierigkeiten einge- stellt haben und an Lösungen arbeiten. Diese Ma- nager bemühen sich nach Kräften, die Mauern um sich herum einzureißen. „Wenn Sie in Ihrem Büro gefangen sind, müssen Sie einen Weg finden, aus- zubrechen“, sagt Amazon-Gründer Jeff Bezos. Ge- nau das tun diese Unternehmenslenker. Sie su- chen bewusst ungewohnte Situationen, in denen sie auf Unerwartetes stoßen. Sie verlassen die aus- 34 HARVARD BUSINESS MANAGER JULI 2017 getretenen Pfade und decken dabei schwierige neue Fragen auf, die wichtige Erkenntnisse zutage fördern. DIE RICHTIGEN FRAGEN STELLEN KOMPAKT DAS PROBLEM Macht und Prestige schneiden die meisten CEOs von wichtigen In - formationen ab, die sie auf Chancen und Gefah - ren hinweisen könnten. Innovative Topmanager müssen deshalb Mauern um sich herum einrei ßen, indem sie Kontakt zu einer breiten Palette an Personengruppen pflegen und die ausgetretenen Pfade verlassen. DIE LÖSUNG Diese CEOs suchen bewusst Situationen, in denen sie sich über - raschend irren können, sich ungewohnt unwohl fühlen und untypisch still sind. Das hilft ihnen, die richtigen Fragen zu stellen, unbekannte Felder zu erschließen und wichtige, aber schwa- che Signale aufzufangen. Hartnäckige CEOs bekommen eigentlich immer die Informationen, die sie suchen – vielleicht nicht ganz so schnell, wie sie es gern hätten, aber letzt- lich bekommen sie sie. Schwieriger ist es, Informa- tionen zu finden, die sie nicht suchen, weil sie gar nicht wissen, dass sie sie brauchen. Das betrifft leider nicht nur ein paar wenige undurchsichtige Bereiche in leistungsschwachen Unternehmen. Oft geht es um sich abzeichnende Entwicklungen, die das Potenzial haben, das gesamte Wettbe- werbsgefüge zu verändern. Eine gute Bezeichnung dafür ist das „unbe- kannte Unbekannte“ – ein Ausdruck, den der ehe- malige US-Verteidigungsminister Donald Rums- feld 2002 berühmt gemacht hat. Er sagte: „Es gibt das bekannte Bekannte, das sind die Dinge, von de- nen wir wissen, dass wir sie kennen. Daneben gibt es das bekannte Unbekannte, das heißt, wir wis- sen, dass wir manches nicht wissen. Darüber hin- aus gibt es aber auch noch das unbekannte Unbe- kannte, und darunter fällt alles, von dem wir noch nicht einmal wissen, dass wir es nicht wissen. Die zuletzt genannte Kategorie birgt in der Regel die größten Schwierigkeiten.“ Rumsfeld bezog sich zwar auf militärische Be- drohungen, aber auch im Geschäftsleben können die unvermittelt auftretenden Bedrohungen die gefährlichsten sein. Die größten Verluste entste- hen, wenn Unternehmen von Innovationen und neuen Wettbewerbern überrascht werden, die sich die Manager nicht einmal hatten vorstellen kön- nen. Das weiß niemand besser als die He rsteller von Navigationsgeräten, deren Geschäftsmodell von kostenlosen Handy-Apps zerstört wurde, oder Taxifahrer, die durch Uber und Lyft plötzlich mit privaten Autofahrern um Fahrgäste konkurrieren müssen. Oft können intelligente Fragen Licht ins Dunkel des unbekannten Unbekannten bringen. Der In - novationsexperte Clayton Christensen sagt: „Zu jeder Antwort gehört eine Frage, die sie ausgelöst hat.“ Dabei ist es oft nicht leicht, die richtigen Fragen zu stellen, erklärt Elon Musk, der Visionär hinter PayPal, SpaceX und Tesla: „Häufig ist die Frage schwieriger als die Antwort. Wenn es Ihnen gelingt, die Frage richtig zu formulieren, ist die Antwort einfach.“ Jeff Immelt, der CEO des US-Mischkonzerns Ge- neral Electric (GE), fand mit einer intelligenten Frage die Antwort auf eine ernsthafte Bedrohung für den Konzern. Als das Internet anfing, die Welt- wirtschaft zu revolutionieren, überlegte das GE- Management, wie ein mehr als hundert Jahre altes Fertigungsunternehmen im Zeitalter digitaler