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Stephan Weil,
Ministerpräsident
Niedersachsen
Strategie entscheidet
Der Fachkräftemangel wird immer
mehr zum Bremsklotz der Wirtschaft.
Ich bin viel in Niedersachsen unter-
wegs und noch vor einigen Jahren
klagten Handwerk und Industrie vor
allem über Steuern und Bürokratie.
Mittlerweile sind bei diesen Gesprä-
chen die fehlenden Nachwuchskräfte
das vordringlichste Problem. Nieder-
sachsen hat bereits vor fünf Jahren
mit zahlreichen Arbeitsmarktpart-
nern eine Fachkräfteinitiative gestar-
tet. Mit vielen Beteiligten wird seit-
dem an Lösungen gearbeitet. Klar
ist allerdings, es gibt nicht den einen
Lösungsansatz, sondern es muss auf
vielen unterschiedlichen Ebenen ge-
handelt werden. Die von mir geführ-
te Landesregierung hat beispiels-
weise vor kurzem das Schulgeld für
Gesundheitsberufe abgeschafft. Jetzt
werden sich hoffentlich wieder mehr
junge Leute etwa für eine physiothe-
rapeutische Ausbildung entscheiden.
Für Pflegekräfte benötigen wir einen
guten Flächentarifvertrag, damit der
Beruf wieder attraktiver wird. Mit
Blick auf die zunehmende Digitali-
sierung brauchen wir eine kluge Aus-
und Weiterbildung. Informatik sollte
als Schulfach in ganz Deutschland
eingeführt werden. Mit seiner Nati-
onalen Weiterbildungsstrategie setzt
der Bundesarbeitsminister bei der
wichtigen Fortbildung von Arbeiter-
nehmerinnen und Arbeitnehmern
auf den richtigen Weg. Fest steht aber
auch: Deutschland ist auf die Zuwan-
derung von Fachkräften angewiesen.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz
geht in die richtige Richtung, reicht
aber nicht aus.
Imke Lohmann, Leserin
Universelle Qualitäten
These: Heute verlieren viele Fachkräf-
te zu viel Zeit für Tätigkeiten, für die
sie keine Fachkräfte sind. Während
sie in der Konsequenz darüber nach-
denken, wie sie sich vervielfältigen
können, um die Aufgaben zu erledi-
gen, geht es in kleinen Organisationen
agil zu, weil weniger Menschen eher
alles machen. Sie wissen sich zu hel-
fen, weil sie es müssen. Sie schöpfen
die Innovationsquellen und die Po-
wer des „Nicht-Wissens“ auf eine für
sie logische Art und Weise aus. Viele
Entrepreneure tun das Gleiche: Sie
unternehmen und lassen sich helfen,
weil sie sich zu helfen wissen. Ich bin
überzeugt, dass wir Menschen mehr
Zu-Mutungen benötigen, um in Kon-
takt mit Empowerment und Kreativi-
tät zu kommen. Entlarven wir unsere
blinden Flecken als Fachidioten und
verlassen wir die Sicherheiten unse-
Gerd Eisenbeiß, Leser
Auf dem Holzweg
Deutschland hat sich mit seiner Dis-
ziplin und Kompetenz in eine un-
glückliche Situation manövriert, die
zu einem Leistungsbilanzüberschuss
von grob 300 Milliarden Euro pro
Jahr geführt hat. Die Folge ist, dass
viel zu viele Menschen in Deutsch-
land für diesen Überschuss und nicht
für die Bedürfnisse der eigenen Be-
völkerung arbeiten. Man verdient mit
diesem Überschuss ein Vermögen
mit Schuldverschreibungen an Defi-
zitländer, aber keinen Wohlstand für
alle. Obendrein bestehen erhebliche
Zweifel, ob die Schulden je bezahlt
werden, ob also die verdienten Ver-
mögen nicht Illusion sind. Besonders
abstrus wird es, wenn man zur Auf-
rechterhaltung dieser hamsterartigen
Ökonomie auch noch Fachkräfte aus
nichteuropäischen Ländern impor-
tiert, gerade jene gut ausgebildeten
jungen Menschen, die ihren eigenen
Gesellschaften zur Verfügung stehen
sollten. Fachkräfte wären in Deutsch-
land und seinen EU-Partnern für alle
genug da, wenn man die Leistungs-
bilanz herunterfahren, die Einkom-
mensverhältnisse zugunsten inlän-
discher Bedürfnisse wie der Pflege
verbessern und die Ausbildung jun-
ger Menschen in Deutschland mehr
auf eigene Bedarfsfelder als auf ex-
portorientierte Berufe hinsteuern
würde. Wie man die Leistungsbilanz
normalisieren kann? Durch Ver-
minderung der überhöhten Wettbe-
werbsfähigkeit, etwa durch kräftige
Lohnerhöhungen oder – ökologisch
besser – durch entsprechende Ar-
beitszeitverkürzungen.
ALARMSTUFE ROT In manchen Branchen ist der Fachkräftemangel heute bereits deutschlandweit Realität
Fachkräftemangel
Anzeichen für
Fachkräftemangel
Keine Anzeichen
für Engpässe
Keine Daten aufgrund
kleiner Größenordnungen
›
Im Bereich Informatik, Softwareentwicklung
und Programmierung und IT-Anwenderberatung
Im Bereich Energietechnik
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Achim Dercks,
Stellvertretender
Hauptgeschäftsführer
Deutscher Industrie-
und Handelskammertag
(DIHK)
Der Druck wächst
Der Fachkräftemangel ist für die Un-
ternehmen in Deutschland das Ge-
schäftsrisiko Nummer eins. Das sehen
aktuell fast 60 Prozent der Unterneh-
men so, vor weniger als zehn Jahren
waren es nur 16 Prozent. Der Blick auf
die Demografie zeigt, dass die Fach-
kräftesicherung künftig Unterneh-
rer Vorstellungen, die vor neuen We-
gen stehen. Überfordern wir uns und
wachsen wir über uns hinaus. Die
Fachlichkeit, die Perfektion und das
„Made in Germany“ haben uns weit
gebracht. Für die Zukunft ist das kein
Erfolgsrezept mehr. Wichtig wird sein,
einen Dialog darüber zu führen, ob die
Produktivität zukünftig als Messlat-
te für die Entlohnung zählt oder die
Fachlichkeit. Beerdigen wir unsere
weitverbreitete Haltung, zu können,
zu wissen und damit Ergebnisse zu
kontrollieren. Nutzen wir die Wegbe-
schreibung, die uns zu Neugierde und
Menschlichkeit rät, damit wir fragend
finden, was uns guttut.
men und Politik stark bewegen wird.
Denn die Zahl der Menschen im Er-
werbsalter nimmt in den nächsten 15
Jahren um bis zu sechs Millionen ab
– und das auch nur unter der Annah-
me weiterer Zuwanderung. Immer
häufiger finden Unternehmen schon
heute keine passenden Mitarbeiter
mit einer Berufsausbildung. Deshalb
ist es wichtig, die duale Ausbildung
zu stärken – zum Beispiel durch eine
praxisorientierte Berufsorientierung
gerade an Gymnasien, die realistisch
und fair die Verdienstmöglichkeiten
und Karrierechancen in verschiede-
nen Berufen aufzeigt. Zudem muss
es uns gelingen, die Menschen noch
Friedrich Schönhoff,
Leser
Der Gier geschuldet
Um vor allem in der Pflege die Frage
zu beantworten, woher das Personal
für morgen kommt, sollte man einen
Blick in die Vergangenheit werfen. In
den personell entspannten Zeiten der
1990er-Jahre haben viele tariflich ge-
bundene Träger durch die Gründung
eigener Zeitarbeitsfirmen die Perso-
besser in Beschäftigung zu bringen.
Dies gilt etwa für Eltern, die nach
einer Kinderpause wieder einsteigen
möchten – aus Sicht der Betriebe ger-
ne auch mit längeren Arbeitszeiten.
Der weitere Ausbau einer guten und
flexiblen Kinderbetreuung ist daher
unerlässlich. Auch die Zuwanderung
ausländischer Fachkräfte kann den
Unternehmen helfen, offene Stellen
zu besetzen. Mit dem neuen Fach-
kräfteeinwanderungsgesetz will die
Bundesregierung gerade für beruflich
Qualifizierte den Zuzug erleichtern.
Jetzt kommt es darauf an, diese Rege-
lungen in der Praxis unbürokratisch
umzusetzen.
nalkosten gesenkt. Später begann man,
die Bereiche, die nicht das Kernge-
schäft Pflege betrafen, etwa die Haus-
wirtschaft, outzusourcen. Da war die
Gier nach Gewinnmaximierung größer
als die Wertschätzung der eigenen Mit-
arbeiterschaft. Hinzukommt, dass seit
vielen Jahren Führungskräfte in der
Pflege fehlen. Woher sollen sie auch
kommen. Niemand wird Altenpfleger,
um in der Bereichsorganisation, Kun-
denpflege oder Personalführung tätig
zu sein. Das aber sind heute Kernauf-
gaben der Wohnbereichsleitungen, die,
gemessen am Mehraufwand, nicht ge-
nug geschult und erst recht nicht ange-
messen bezahlt werden.