+3 Magazin März 2019 | Page 10

› Lorenz Grigull, Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE), Medizinische Hochschule Hannover Ähnliche Muster FRÜHERKENNUNG DER DMD – WEIL JEDER TAG ZÄHLT! Wenn Kinder, vor allem Jungen, in ihrer Entwicklung langsamer sind als Gleichaltrige, muss zunächst kein Grund zur Sorge bestehen. Denn schließlich entwickelt sich jedes Kind in seinem eigenen Tempo, ganz individuell. Doch in seltenen Fällen kann auch einmal mehr dahinter- stecken, zum Beispiel eine Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). Die DMD ist eine schwerwiegende Erkrankung, die durch einen fortschrei- tenden, unaufhaltsamen Muskelabbau gekennzeichnet ist. Zunächst ist nur die Bewegungsmuskulatur betroffen, später auch die Atem- und Herzmuskulatur. Oberstes Ziel ist es, die Gehfähigkeit so lange wie möglich zu erhalten, denn ein früher Verlust der Gehfähigkeit ist mit einer schnelleren Verschlechterung wichtiger Funktionen assoziiert, etwa der Abnahme motorischer Funktionen, orthopädische Komplikati- onen und Ateminsuffizienz. Da einmal zugrunde gegangene Muskeln nicht wieder repariert werden können, ist die Früherkennung der DMD umso wichtiger. Neben der Behandlung kommt deshalb der Diagnostik der DMD besondere Be- deutung zu. Denn gerade eine frühzeitige Diagnose kann die Progno- se und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich verbessern. Dabei ist es wichtig, dass nicht nur die ersten muskelspezifischen Symptome rechtzeitig erkannt werden, sondern bereits auch auf die unspezifischen frühen Zeichen einer DMD wie motorische, kognitive und sprachliche Entwicklungsverzögerungen geachtet wird. Eine frühe Diagnose der DMD bedeutet weniger Stigmatisierung, weniger Belastung und weniger Komplikationen für Eltern und Kind. Die Patienten können frühzeitig behandelt werden und durch die Aufnahme in ein Pati- entenregister beispielsweise auch von neuen innovativen Therapien profi- tieren. Welche frühen Zeichen einer Entwicklungsverzögerung bei Jungen können auf eine DMD hinweisen? Was ist zu tun bei Verdacht auf DMD? Hierzu bietet die Website www.hinterherstattvolldabei.de Eltern, Angehö- rigen oder Interessierten in nur drei Schritten eine schnelle Orientierung. Damit eine DMD so früh wie möglich erkannt werden kann. Viele Menschen mit einer seltenen Erkrankung erleben eine traurige Odyssee, bevor ihre Erkrankung am Ende diagnostiziert wird. Das Erfah- rungswissen der Betroffenen wird bislang aber viel zu wenig im Diag- noseprozess genutzt. Wir haben uns daher die Frage gestellt, ob es nicht möglich ist, dass die Erfahrungen Betroffener mit unterschiedlichen seltenen Erkrankungen vor der Di- agnosestellung Ähnlichkeiten oder typische Muster aufweisen. Falls ja, könnten diese Muster mit Verfah- ren der Künstlichen Intelligenz (KI) erkannt werden. KI könnte Ärzte an eine seltene Erkrankung „erinnern“. Zur Beantwortung dieser Frage ha- ben wir viele Betroffene mit selte- ner Erkrankung interviewt und aus den Erfahrungen einen einzigartigen Fragebogen erstellt. Er umfasst 53 Fragen und wurde von über 1.000 Menschen mit bereits diagnostizier- ter seltener Erkrankung beantwortet. Sabine Roters, Leserin Ein erfülltes Leben „Hereditäre Spastische Spinalparalyse – ein schrecklicher Zungenbrecher!“ An diese Worte kann ich mich noch gut erinnern, als ich vor vier Jahren zum ersten Mal an der monatlichen Team- sitzung der Tom Wahlig Stiftung teil- Stephan Kruip, Bundesvorsitzender Mukoviszidose e. V. und Mitglied Deutscher Ethikrat Wenn die Luft ausgeht Die Erbkrankheit Duchenne-Muskel- dystrophie (DMD) tritt bei etwa einem von 3.600 bis 6.000 Kindern auf, in den allermeisten Fällen sind Jungen betroffen. Erste Zeichen einer DMD können bereits im Kleinkind- alter auftreten. Durch eine Veränderung in der Erbsubstanz wird bei den betroffenen Kindern kein funktionsfähiges Muskelprotein Dystrophin gebildet. Mit der Kampagne „Hinterher statt voll dabei?“ möchte PTC Therapeutics das Bewusstsein für die DMD in der Öffentlichkeit schärfen. Erfahren Sie mehr auf: www.hinterherstattvolldabei.de Bei Mukoviszidose (CF) ist der Salz- Wasser-Haushalt der Zellen gestört und ein zähflüssiger Schleim beginnt, die Organe zu verstopfen. Ohne Be- handlung werden langfristig vor al- lem Lunge und Bauchspeicheldrüse zerstört. Zum Zeitpunkt der Grün- dung des Mukoviszidose e. V. vor 54 Jahren war die seltene Multiorganer- krankung noch überwiegend eine Kinderkrankheit. Heute wissen wir aus den Daten unseres Registers, dass Betroffene inzwischen ein mittleres Erwachsenenalter erreichen können. Angefangen haben wir mit 98 Mit- gliedern, vor allem Ärzte. Damals konnte kaum jemand das Wort Mu- Im Anschluss wurden spezielle KI- Verfahren darauf trainiert, Antwort- muster zur Identifizierung von Men- schen mit seltenen Erkrankungen zu erkennen. In unserer Pilotstudie lag die Erkennungsrate bei fast 90 Prozent, aktuell läuft eine Studie an, um den Fragebogen in der Praxis zu testen. Durch die Zusammenarbeit zwischen dem ZSE Hannover und ausgewählten Hausärzten soll der Fragebogen bei Menschen ohne Di- agnose helfen, eine seltene Erkran- kung in Betracht zu ziehen. Wir hof- fen, dass die Odyssee von Menschen ohne Diagnose durch KI-Verfahren zukünftig verkürzt werden kann. nahm. Wir saßen draußen im Garten und Tom Wahlig erzählte eindrucks- voll von den schweren Anfängen der Stiftung, die inzwischen ihr 20-jähri- ges Jubiläum gefeiert hat. Der Begriff Hereditäre Spastische Spinalparalyse (HPS), bei der Defekte in den Nerven- zellen das Gehen erschweren und es häufig ganz unmöglich machen, geht mir inzwischen leicht über die Lippen. Auch kenne ich mich mit den medizi- nischen Hintergründen der seltenen wie unheilbaren Erbkrankheit aus, die oft in der Kindheit einsetzt und sich stetig verschlimmert. Doch am meisten habe ich in den letzten Jah- ren gelernt, mich nicht hängen zu las- sen, zu kämpfen und egal, welche Last man im Leben auch zu tragen hat, das Beste daraus zu machen und stets das Positive im Blick zu haben. Das ein Le- ben trotz Behinderung erfüllend sein kann, zeigt mir tagtäglich auch Henry Wahlig, der 38-jährige Sohn von Tom Wahlig, der selbst von der Erkrankung betroffen ist und seit zehn Jahren im Rollstuhl sitzt. Er sagt immer: „Ich kann zwar nicht mehr Fußball spielen, aber sonst ist in meinem Leben alles möglich oder kann möglich gemacht werden.“ Und so ist es auch: Das Le- ben ist schön, man muss es nur wollen. koviszidose aussprechen. Heute freu- en wir uns über rund 5.500 Mitglie- der. Das sind auch heute noch Ärzte, aber auch Patienten, ihre Angehöri- gen, Vertreter aller Berufsgruppen, die an der CF-Versorgung beteiligt sind, und Forscher. Nur durch die Bündelung all dieser Erfahrungen und Kompetenzen können die vie- len Projekte umgesetzt werden: sei es in der Forschungsförderung, un- ser klinisches Studiennetzwerk, das Zertifizierungsverfahren für die CF- Einrichtungen, zahlreiche Tagun- gen, Seminare und Angebote für die Betroffenen und unsere politische Arbeit. Zurzeit sehen wir mit Sorge einem großen Versorgungsengpass entgegen. Es gibt immer noch zu wenig Ambulanzen für erwachsene Patienten, die vorhandenen platzen aus allen Nähten. Es gibt Regionen in Deutschland, in denen die erwach- senen Patienten einfach vor die Tür gesetzt werden. Da muss unbedingt bald etwas passieren.