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Lorenz Grigull,
Zentrum für Seltene
Erkrankungen (ZSE),
Medizinische Hochschule
Hannover
Ähnliche Muster
FRÜHERKENNUNG
DER DMD – WEIL
JEDER TAG ZÄHLT!
Wenn Kinder, vor allem Jungen, in ihrer Entwicklung langsamer sind
als Gleichaltrige, muss zunächst kein Grund zur Sorge bestehen. Denn
schließlich entwickelt sich jedes Kind in seinem eigenen Tempo, ganz
individuell. Doch in seltenen Fällen kann auch einmal mehr dahinter-
stecken, zum Beispiel eine Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). Die
DMD ist eine schwerwiegende Erkrankung, die durch einen fortschrei-
tenden, unaufhaltsamen Muskelabbau gekennzeichnet ist. Zunächst
ist nur die Bewegungsmuskulatur betroffen, später auch die Atem-
und Herzmuskulatur. Oberstes Ziel ist es, die Gehfähigkeit so lange
wie möglich zu erhalten, denn ein früher Verlust der Gehfähigkeit ist
mit einer schnelleren Verschlechterung wichtiger Funktionen assoziiert,
etwa der Abnahme motorischer Funktionen, orthopädische Komplikati-
onen und Ateminsuffizienz.
Da einmal zugrunde gegangene Muskeln nicht wieder repariert werden
können, ist die Früherkennung der DMD umso wichtiger. Neben der
Behandlung kommt deshalb der Diagnostik der DMD besondere Be-
deutung zu. Denn gerade eine frühzeitige Diagnose kann die Progno-
se und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich verbessern. Dabei
ist es wichtig, dass nicht nur die ersten muskelspezifischen Symptome
rechtzeitig erkannt werden, sondern bereits auch auf die unspezifischen
frühen Zeichen einer DMD wie motorische, kognitive und sprachliche
Entwicklungsverzögerungen geachtet wird.
Eine frühe Diagnose der DMD bedeutet weniger Stigmatisierung, weniger
Belastung und weniger Komplikationen für Eltern und Kind. Die Patienten
können frühzeitig behandelt werden und durch die Aufnahme in ein Pati-
entenregister beispielsweise auch von neuen innovativen Therapien profi-
tieren. Welche frühen Zeichen einer Entwicklungsverzögerung bei Jungen
können auf eine DMD hinweisen? Was ist zu tun bei Verdacht auf DMD?
Hierzu bietet die Website www.hinterherstattvolldabei.de Eltern, Angehö-
rigen oder Interessierten in nur drei Schritten eine schnelle Orientierung.
Damit eine DMD so früh wie möglich erkannt werden kann.
Viele Menschen mit einer seltenen
Erkrankung erleben eine traurige
Odyssee, bevor ihre Erkrankung am
Ende diagnostiziert wird. Das Erfah-
rungswissen der Betroffenen wird
bislang aber viel zu wenig im Diag-
noseprozess genutzt. Wir haben uns
daher die Frage gestellt, ob es nicht
möglich ist, dass die Erfahrungen
Betroffener mit unterschiedlichen
seltenen Erkrankungen vor der Di-
agnosestellung Ähnlichkeiten oder
typische Muster aufweisen. Falls ja,
könnten diese Muster mit Verfah-
ren der Künstlichen Intelligenz (KI)
erkannt werden. KI könnte Ärzte an
eine seltene Erkrankung „erinnern“.
Zur Beantwortung dieser Frage ha-
ben wir viele Betroffene mit selte-
ner Erkrankung interviewt und aus
den Erfahrungen einen einzigartigen
Fragebogen erstellt. Er umfasst 53
Fragen und wurde von über 1.000
Menschen mit bereits diagnostizier-
ter seltener Erkrankung beantwortet.
Sabine Roters,
Leserin
Ein erfülltes Leben
„Hereditäre Spastische Spinalparalyse
– ein schrecklicher Zungenbrecher!“
An diese Worte kann ich mich noch gut
erinnern, als ich vor vier Jahren zum
ersten Mal an der monatlichen Team-
sitzung der Tom Wahlig Stiftung teil-
Stephan Kruip,
Bundesvorsitzender
Mukoviszidose e. V.
und Mitglied
Deutscher Ethikrat
Wenn die Luft ausgeht
Die Erbkrankheit Duchenne-Muskel-
dystrophie (DMD) tritt bei etwa einem von
3.600 bis 6.000 Kindern auf, in den allermeisten Fällen sind Jungen
betroffen. Erste Zeichen einer DMD können bereits im Kleinkind-
alter auftreten. Durch eine Veränderung in der Erbsubstanz wird
bei den betroffenen Kindern kein funktionsfähiges Muskelprotein
Dystrophin gebildet.
Mit der Kampagne „Hinterher statt voll dabei?“ möchte PTC Therapeutics
das Bewusstsein für die DMD in der Öffentlichkeit schärfen.
Erfahren Sie mehr auf: www.hinterherstattvolldabei.de
Bei Mukoviszidose (CF) ist der Salz-
Wasser-Haushalt der Zellen gestört
und ein zähflüssiger Schleim beginnt,
die Organe zu verstopfen. Ohne Be-
handlung werden langfristig vor al-
lem Lunge und Bauchspeicheldrüse
zerstört. Zum Zeitpunkt der Grün-
dung des Mukoviszidose e. V. vor 54
Jahren war die seltene Multiorganer-
krankung noch überwiegend eine
Kinderkrankheit. Heute wissen wir
aus den Daten unseres Registers, dass
Betroffene inzwischen ein mittleres
Erwachsenenalter erreichen können.
Angefangen haben wir mit 98 Mit-
gliedern, vor allem Ärzte. Damals
konnte kaum jemand das Wort Mu-
Im Anschluss wurden spezielle KI-
Verfahren darauf trainiert, Antwort-
muster zur Identifizierung von Men-
schen mit seltenen Erkrankungen
zu erkennen. In unserer Pilotstudie
lag die Erkennungsrate bei fast 90
Prozent, aktuell läuft eine Studie an,
um den Fragebogen in der Praxis zu
testen. Durch die Zusammenarbeit
zwischen dem ZSE Hannover und
ausgewählten Hausärzten soll der
Fragebogen bei Menschen ohne Di-
agnose helfen, eine seltene Erkran-
kung in Betracht zu ziehen. Wir hof-
fen, dass die Odyssee von Menschen
ohne Diagnose durch KI-Verfahren
zukünftig verkürzt werden kann.
nahm. Wir saßen draußen im Garten
und Tom Wahlig erzählte eindrucks-
voll von den schweren Anfängen der
Stiftung, die inzwischen ihr 20-jähri-
ges Jubiläum gefeiert hat. Der Begriff
Hereditäre Spastische Spinalparalyse
(HPS), bei der Defekte in den Nerven-
zellen das Gehen erschweren und es
häufig ganz unmöglich machen, geht
mir inzwischen leicht über die Lippen.
Auch kenne ich mich mit den medizi-
nischen Hintergründen der seltenen
wie unheilbaren Erbkrankheit aus,
die oft in der Kindheit einsetzt und
sich stetig verschlimmert. Doch am
meisten habe ich in den letzten Jah-
ren gelernt, mich nicht hängen zu las-
sen, zu kämpfen und egal, welche Last
man im Leben auch zu tragen hat, das
Beste daraus zu machen und stets das
Positive im Blick zu haben. Das ein Le-
ben trotz Behinderung erfüllend sein
kann, zeigt mir tagtäglich auch Henry
Wahlig, der 38-jährige Sohn von Tom
Wahlig, der selbst von der Erkrankung
betroffen ist und seit zehn Jahren im
Rollstuhl sitzt. Er sagt immer: „Ich
kann zwar nicht mehr Fußball spielen,
aber sonst ist in meinem Leben alles
möglich oder kann möglich gemacht
werden.“ Und so ist es auch: Das Le-
ben ist schön, man muss es nur wollen.
koviszidose aussprechen. Heute freu-
en wir uns über rund 5.500 Mitglie-
der. Das sind auch heute noch Ärzte,
aber auch Patienten, ihre Angehöri-
gen, Vertreter aller Berufsgruppen,
die an der CF-Versorgung beteiligt
sind, und Forscher. Nur durch die
Bündelung all dieser Erfahrungen
und Kompetenzen können die vie-
len Projekte umgesetzt werden: sei
es in der Forschungsförderung, un-
ser klinisches Studiennetzwerk, das
Zertifizierungsverfahren für die CF-
Einrichtungen, zahlreiche Tagun-
gen, Seminare und Angebote für die
Betroffenen und unsere politische
Arbeit. Zurzeit sehen wir mit Sorge
einem großen Versorgungsengpass
entgegen. Es gibt immer noch zu
wenig Ambulanzen für erwachsene
Patienten, die vorhandenen platzen
aus allen Nähten. Es gibt Regionen
in Deutschland, in denen die erwach-
senen Patienten einfach vor die Tür
gesetzt werden. Da muss unbedingt
bald etwas passieren.