+3 Magazin Juli 2018 | Page 5

+1 Moderne Zeiträuber Die Entwicklung des menschlichen Zeitgefühls hat mit der Integration sensorischer Informationen in unse- rem Gehirn zu tun und als solche un- terliegt sie neuronalen Mechanismen. Als Konstrukt unseres Gehirns ist Zeit eine Illusion. Sie hilft uns, Ereignisse aus unserem Leben sinnhaft aufein- ander beziehen zu können und für die Zukunft zu planen. Junge Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen Eva Lücke, Leserin Sinnvoll gefüllt Mein Arbeitsleben liegt einige Jah- re hinter mir. Man sollte also meinen, dass ich alle Zeit der Welt habe, um was auch immer zu tun und zu lassen. Es ist aber so, dass ich das einerseits nicht nur tun konnte, sondern auch getan habe: etwa ein nachberufliches Studium, um nur ein Beispiel anzuführen. Damit ergab sich dann wieder eine Zeitein- teilung. Mit erneutem Eintritt in einen Chor, der Anmeldung zum Bogenschie- ßen und der Geburt meines Enkels waren die Tage, Wochen und Monate dann ähnlich belegt, wie vorher im Be- ruf, und sie sind es nach wie vor. Was soll ich sagen? Ich glaube, ich möchte von meinen „Pflichten“ gar nicht be- freit sein. Kleine „Freizeiten“ ergeben sich ohnehin. Mein Enkel ist in den Ferien oft nicht in der Stadt, der Chor macht dann ebenfalls Pause, mein Ge- sangslehrer auch. Dann lese ich lange liegengebliebene Bücher oder fahre bei sonnigem Wetter spontan zum See und mache eine Schiffsrundfahrt. An Zeit fehlt es mir nicht wirklich. sind, organisieren heute ihr Leben mit Hilfe der sozialen Netzwerke. Als Fol- ge des sogenannten FOMO-Effekts (Fear Of Missing Out, also der Angst, etwas zu verpassen) kommt hierbei oft die Angst auf, falsche Entschei- dungen in Bezug auf die Zeitnutzung zu treffen. Das erzeugt Stress und macht krank. Die junge Generation hat das Internet als eine Plattform Mir fällt es schwer, „offline“ zu sein und für eine Zeit lang alle digitalen Geräte abzuschalten und mein Smartphone/Tablet wegzulegen. 38% von Computer-Games rauben uns die Zeit, aber unser Gehirn scheint dies nicht zu stören. Im Gegenteil. Wir werden mit dem Ausstoß des Neuro- transmitters Dopamin belohnt, was für das Erleben des Glücksgefühls ver- antwortlich ist. Es greifen dieselben Mechanismen wie beim Konsumieren von Drogen. Was folgt, ist eine Sucht, die kaum aufzuhalten ist. Ich führe gelegentlich eine „Offline-Zeit“ ein: Für ein paar Stunden schalte ich ganz bewusst alles ab beziehungsweise gar nicht erst ein. 60% 59% 56% 14-24 Jahre 50% 25-34 Jahre 35-54 Jahre 55-69 Jahre 40% 34% 24% 35% 14-24 Jahre 56% 25-34 Jahre 57% 35-54 Jahre 57% 55-69 Jahre 61% 69% Quelle: BVDW Cordula Nussbaum, Keynote-Speakerin für Zeitmanagement und Zielerreichung Keine Langeweile „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit“, sagt ein afrikanisches Sprichwort über uns Westeuropäer. Und dieser Satz wird ständig wahrer. Wir hetzen von Termin zu Termin, getrieben vom Anspruch, perfekt zu sein und stän- dig Höchstleistung zu bringen. Wer Anzeige MY WAY VS. HIGHWAY #myridemytime bergamont.com zur Selbstrealisierung und Selbst- darstellung entdeckt. Besonders mo- tivierende Aktivitäten erzeugen im Menschen bekannterweise das Gefühl des völligen Aufgehens in der ausge- übten Tätigkeit. In der Wissenschaft spricht man von einem sogenannten Flow-Zustand. Bekanntestes Beispiel ist hier das Versinken im Computer- spiel. Internetaktivitäten und Spielen MACH MAL PAUSE Je jünger die Nutzer, desto seltener sind sie offline Robert J. Wierzbicki, Professor für Onlinemedien, Hochschule Mittweida 5 jetzt noch zu den „kreativen Chao- ten“ zählt, dem fehlt die Zeit sowieso an allen Enden. Als Querdenker und vielseitig interessierter Mensch wol- len sie am liebsten überall dabei sein, alles ausprobieren. Sie sehen die Welt als Meer der Möglichkeiten und wol- len alle Chancen nutzen. Das Resultat: Der Tag hat einfach zu wenig Stunden. Diese Tipps helfen: 1) Entdecken Sie, wie hoch Ihr „Kreativer-Chaot“-Anteil ist. Wie wichtig sind Ihnen flexibles Tun, Spontanität, neue Erfahrungen? Je wichtiger, desto mehr sind Sie ein „kreativer Chaot“. 2) Machen Sie sich als solcher klar, dass ein Nein zu ei- ner Möglichkeit kein Verzicht für im- mer bedeutet. 3) Denken Sie dazu in kurzen Zeitabständen. Was Sie heute entscheiden, ist nicht für die Ewigkeit. Machen Sie, was heute am attraktivs- ten ist. Und geben Sie sich die Erlaub- nis, später das Rad weiterzudrehen. 4) Denken Sie in langen Zeitabständen. Erlauben Sie sich, heute nicht alles erleben zu müssen. Laut Statistik wer- den wir mindestens 80 Jahre alt – Zeit genug, viel zu erleben. 5) Halten Sie es wie der schottische Unternehmer Sir Angus Grossart, der sagte: „Mein Be- streben ist es, lieber an Erschöpfung als an Langeweile zu sterben.“ ›