Sonntagsblatt 6/2014 | Page 3

MOTTO: Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leids – und ein Quell unendlichen Trostes. Marie von Ebner-Eschenbach Durch Vielfalt zur Einheit Eine kleine Wahlnachlese am Ende eines Superwahljahres Ein Kommentar von Richard Guth 25.108 Stimmen und damit ein traumhaftes 100%-Ergebnis bei (jedenfalls pro forma) demokratischen Wahlen. So viele Wahl - ungarndeutsche stimmten für die deutsche Liste. Ein Ergebnis, was selbst manch ein Politprofi aus den achtziger Jahren des ver- gangenen Jahrhunderts beneiden würde. Die „Einheitsliste” hat das Ergebnis gebracht, was man von ihr unverhohlen erwartet hat. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp über 70%, eigentlich ein gutes Ergebnis, denn dieser Wert lag bei den Kommunalwahlen, die gleichzeitig stattfanden, bei lediglich 45%. Auch die Zahl der un - gültigen Stimmen (3342) hielt sich in Grenzen, dennoch könnte dies als ein Zeichen gewertet werden. Ein stummes Zeichen des Protests etwa? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Eine andere Zahl trübt jedoch das Bild: 40.906. So viele Bürger ließen sich in der deutschen Wählerliste registrieren, somit nun deutlich mehr als bei den Parlamentswahlen. Wenn man bedenkt, dass man hier nicht auf sein politisches Mitwirkungsrecht verzich- ten musste, ist die Zahl dennoch ernüchternd. Sie zeigt eine gerin- ge Mobilisierung unter den Ungarndeutschen. Oder waren die guten Volkszählungsergebnisse doch nur eine Eintagsfliege? Wir werden es womöglich nie erfahren. War die Registrierungsabstinenz womöglich ein Ausdruck des Protests oder einer Art Verdrossenheit über die Einheitsliste? Wir werden es höchstwahrscheinlich nie erfahren. Eine Einheitsliste ist beim besten Willen nie in der Lage, die Vielfalt in einer Gesellschaft oder Gruppe von Menschen abzubil- den. So sind nunmal Einheitslisten. Einheit scheint auf den ersten Blick verlockend zu sein, sie tötet jedoch das höchste Gut der Pluralität, eine der wichtigsten demokratischen Werte, und produ- ziert Einheitsmenschen mit einer Einheitsmeinung, die sich auf einen Einzigen, eine Führungsfigur oder eine einheitliche Linie hörend stets krampfhaft bemühen, ihre Eigenarten zu verdecken und sich dem Einheitswillen unterzuordnen. Will man das wo - mög lich bewusst herbeiführen? Ob wir es jemals erfahren wer- den!? Interessant war es dennoch, im Vorfeld der Wahlen, zu beob- achten, wie die LdU-Oberen versucht haben, den Kreis derer, die auf Landesebene gewählt werden können (passives Wahlrecht), einzuschränken. Ein Akt guten Willens oder ein bewusst herbei- geführter Pluralitätskiller? Es ist unwahrscheinlich, dass wir das jemals erfahren werden. Einheitslisten können zum Erstarren von Systemen führen, sie lassen diese stagnieren, amtsähnliche Strukturen erschlaffen. Die vier Jahre der letzten Legislaturperiode der LdU dürfen beileibe nicht als Stillstand betrachtet werden. Aber zu behaupten, dass sie von großen Weichenstellungen geprägt waren, damit wäre man der Sache auch nicht gerecht. Selbst LdU-Vorsitzender Heinek sprach in der letzten SB-Nummer davon, zu oft in der Defensive gewesen zu sein. Pluralität schafft hingegen Bewegung, schafft eine Grundlage für den Innergrupp-Dialog, sorgt für neue Ansätze und Impulse. Ein Dialog, den wir Ungarndeutsche so schmerzlich vermisst ha - ben. Inwiefern die Einheitsliste diesem Bedürfnis Rechnung trägt, bleibt abzuwarten. Die Erfahrungen der letzten vier Jahre verhei- ßen aber nichts Gutes. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der Ungarn slo - waken: Sie verfügen über starke zivile Organisationen. In der letz- ten Legislaturperiode saß Ján Fuzik der Landesselbstverwaltung vor und verfügte über eine hauchdünne Mehrheit. Die Wahlen 2014 brachten ein ganz anderes Ergebnis zweier konkurrierender Bündnisse. Diesmal siegte die Opposition, sogar mit einer Zwei - drittelmehrheit. Sicherlich spielte dabei der Wechsel von Fuzik ins Parlament eine Rolle. Ob das Früchte trägt? Vielleicht werden wir es auch nicht erfahren. Aber wir werden es in den nächsten vier Jahren in jedem Falle genau beobachten. • Aktuelles • Ein Briefwechsel nach der Wahl Liebe Leser! Bitte, lassen Sie sich die angeführten Gedanken der Briefeschreiber gut durch den Kopf gehen! Es wird damit viel ge - sagt, was unsere Aufmerksamkeit verdient und in Zukunft beher - zigt we rden sollte. Dr. Jenô Kaltenbach gratuliert zur Wahl: (an alle Vertreter der neuge - wählten Landesselbstverwaltung gerichtet): Liebe Freunde, allen voran möchte ich Euch zu Eurer Wahl gratulieren und wün- sche Euch viel Erfolg bei der Bewältigung der anstehenden Auf - gaben. Beim Verfassen meines Briefes bin ich von dem Gedanken geleitet worden, zu deren Gelingen beizutragen. Ich wäre gerne unter Euch, weil ich denke, dass ich dank mei- nen mehrjährigen Erfahrungen im Inland und in Europa zum Erfolg dieser Arbeit hätte beitragen können. Ich war der Mei - nung, dass wenn ich gut genug als Gründungsvorsitzender war, mehrfach gut genug für das ungarische Parlament, den Europarat, Deutschland und Ungarn, dann habe ich eine Chance, das Ver - trauen der Gemeinschaft zu gewinnen, jedoch dachten gewisse (allen voran zwei) Herren, dass die Sicherung der persönlichen Po sitionen um jeden Preis mehr Wert ist als die Interessen der Gemeinschaft. Tuch drüber. Wenn ich offiziell nicht helfen kann, dann versuche ich es als Privatmann. Zusammen mit einigen Weggefährten von Euch habe ich ein „Programm” entworfen, das zum Teil im Sonntagsblatt abgedruckt wurde, dazu bitte ich – so von außen – um Eure Unterstützung. Natürlich betrachte ich es nicht als einen abgeschlossenen Prozess, aber als einen Anstoß, um darüber zu diskutieren, gerade, weil wir das Diskutieren in den letzten Jahren so schmerzlich vermisst haben. Das Ungarndeutschtum müsste anhand ihrer Besonderheiten (Größe, Vergangenheit, Fähigkeiten) ein integraler Bestandteil der ungarischen Gesellschaft sein, aber das ist es nicht, sondern eine mehr oder weniger isolierte, marginale Erscheinung. Eine Insel, die nicht mit der Welt drumherum kommuniziert, die weit unter ihren Möglichkeiten bleibt, und daran hat auch die vergan- gene Zeit nichts geändert. Viel problematischer ist die fehlende Kommunikation inner- halb der Gemeinschaft, was die schwere Niederlage bei der ver- gangenen Wahlprozedur mehr als deutlich zeigt. Allem Anschein nach haben wir nicht nur nicht die richtigen Konsequenzen gezo- gen, sondern ist der Dialog zwischen den Führungspersön lich kei - ten und den Geführten noch sporadischer als je zuvor. Praktisch (Fortsetzung auf Seite 4) 3