Sonntagsblatt 5/2016 | Page 28

Direktor des Regionalmuseums für Geschichte der Stadt Plewen , Wolodja Popow .
Wenn die Platte wirklich 5000 Jahre alt ist und tatsächlich eine Schrift darauf zu sehen ist , dann könnte sie in der Tat mit den ältesten Schriften konkurrieren : Der Glaube an die Pionierrolle der Sumerer bei der Schriftenwicklung war bisher vor allem durch Entdeckungen in Ägypten erschüttert worden . Auf dem vor der Reichseinigung und der Gründung der ersten Pharaonen dynas - tien entstandenen Königsfriedhof von Abydos wurden beschriftete Verschlusssiegel auf Vorratsgefäßen entdeckt . Die Gräber werden auf die Zeit von bis zu 3320 vor Christus datiert und wären damit älter als die altsumerischen Schriftzeugnisse . Der Ägyptologe Stephan Seidlmayr hat allerdings vor einiger Zeit im „ Welt ” - Interview darauf hingewiesen , dass die frühen Schriften Ägyptens und Mesopotamiens vermutlich nicht unabhängig voneinander entstanden sind : „ Sie können sich vorstellen , wie innerhalb von 500 Jahren immer wieder Karawanen zwischen Ägypten und dem Zweistromland Güter und Wissen hin- und hergetragen haben . In diesem Raum erfand man die Schrift . Es war ein Prozess .”
Die Schrift der Donauzivilisation
Chinesische Schriftzeichen sind dagegen bisher nur auf Gegen - ständen belegt , die etwa 3400 Jahre alt sind . Weil um diese Zeit aber bereits rund 5000 Zeichen existierten , vermuten manche , dass die Schrift in China schon viel länger existierte . Da die Zei - chen ausschließlich für Weissagungen in Orakelknochen geritzt wurden , könnte es sein , dass älteres organisches Material einfach verrottet ist .
Noch umstrittener als solche Spekulationen über die chinesische Schrift ist die Theorie , dass die älteste Schrift der Welt in Europa entstanden ist . Sie wird in Deutschland vor allem von Ha - rald Haarmann vertreten . Seiner Hypothese nach habe es in Alt - europa – unter diesem Begriff fast man mittlerweile die Kulturen Europas in der späten Stein- und frühen Bronzezeit vor der Einwanderung der Indoeuropäer zusammen – eine „ Donauzivili - sation ” gegeben , die schon 5000 vor Christus über eine Schrift verfügte : Entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse im Südosten Europas habe es Einrichtungen gegeben , die auch aus anderen Regionen mit frühen Zivilisationen bekannt sind : „ Großsiedlun - gen von städtischen Ausmaßen , Ackerbau und Vorratswirtschaft , ein reich verzweigtes Netzwerk spezialisierter Handwerksberufe , Metallverarbeitung und ein differenziertes Repertoire von Kul - tursymbolen ."
Tontafeln in Transsylvanien
Zu diesen Kultursymbolen habe laut Haarmann auch eine Schrift gehört , die er in seinem Buch „ Einführung in die Donauschrift ” ( Buske-Verlag , 24,95 Euro ) beschreibt . Als Beweis für deren hohes Alter führt er die Tontafeln von Tartaria in Transsylvanien an , die mit der Radiokarbonmetode auf circa 5300 vor Christus datiert wurden . Haarmann ist zwar kein Scharlatan – sein Buch über die Geschichte der Schrift gilt als Standardwerk , seine Bü - cher werden in höchst renommierten Verlagen wie Beck und Buske veröffentlicht –, aber seine Hypothese von der Donauzivi - lisation und ihrer Schrift ist in Deutschland noch nicht akzeptiert , um nicht zu sagen : Sie ist höchst umstritten .
Das alles muss man wissen , um zu verstehen , warum die neu entdeckte bulgarische Bildschrift als Sensation gilt . Sie könnte die These von der Schrift der Donauzivilisation stützen . Dafür müsste sie aber zunächst einmal von fachkundigeren Spezialisten untersucht werden als nur dem Direktor eines Regionalmuseums . Zwei Tatsachen relativieren den Sensationswert ein wenig : Wenn die Tontafel aus der Zeit um 3000 stammt , wäre sie 2000 Jahre jünger als die ältesten Schriftzeugnisse der Donauzivilisation . Und auch das Hakenkreuz wäre keineswegs das älteste Europas und der Welt – das fand man auf 10 000 Jahre alten Mammutknochen im ukrainischen Mesyn . Auch aus der Vinca-Kultur , die in der Jungsteinzeit ihren Schwerpunkt im heutigen Serbien hatte , aber sich bis Ungarn , Rumänien und Bosnien erstreckte , fand man Keramikfragmente , die mit Swastikas bemalt sind . Der Fundort der neuen Bilderschrift , das Dorf Riben , liegt ebenfalls im Ein - flussbereich der Vinca-Kultur , in Nordbulgarien , nahe der rumänischen Grenze .
Südosteuropa – Hotspot der Archäologen
Die Idee , die Schrift könnte in Europa entstanden sein , erscheint auch heute noch manchen wie der Fiebertraum eines eurozentrischen Amateurs . Haarmann schreibt : „ Jahrzehntelang stand die Schriftforschung unter dem Eindruck der archäologischen Funde in Mesopotamien , durch die immer ältere Kulturschichten des Al - ten Orients aufgedeckt wurden .” Das Licht der frühen Zivilisation schien exklusiv aus dem Osten zu kommen . Doch in den letzten Jahrzehnten haben Grabungsfunde diesen exklusiven Anspruch des Fruchtbaren Halbmonds , alleiniger Ursprung der Zivilisation zu sein , erschüttert . So glaubte man lange Zeit auch , Rad und Wagen seien von den Sumerern erfunden worden – bis in der ukrainischen Steppe , nahe der Urheimat der Indoeuropäer , viel ältere Wagenrelikte aus der Zeit vor mindesten 5600 Jahren ge - fun den wurden . Erst vor wenigen Wochen wurde in Südbulgarien das vermutlich älteste Goldartefakt der Welt aus der Zeit um 4600 vor Christus ausgegraben : ein kleines Schmuckkettenglied mit großem Erkenntniswert .
Es ist sogar noch älter als das Gold auf dem Gräberfeld im bulgarischen Warna am Schwarzen Meer . Dessen Entdeckung im Jahre 1972 bewies , dass sich dort schon ab dem fünften Jahr - tausend vor Christus eine Handelsmetropole entwickelt hatte , die über weit gespannte geschäftliche Kontakte verfügte und in der spezialisierte Handwerker auf hohem Niveau arbeiteten . Warna hat die Vorstellungen von der europäischen Frühgeschichte umgestürzt . Es wird nicht die letzte Revolution unseres Bildes von Alteuropa bleiben .
Nach der Vertreibung aus Ungarn – Neubeginn in Deutschland

Erste Erkundungen I von Johann Wachtelschneider

Für mich war ein ereignisreicher Tag zu Ende gegangen . Auf meinem einfachen Lager „ Weidenkorb ” schlummerte ich bald ein . Ich schlief traumlos , wachte aber mehrmals in der Nacht auf und hörte die Geräusche der Schlafenden , unterbrochen von dem lauten Schnarchen einiger Männer unserer beengten Wohnge mein schaft .
In der Dunkelheit versuchte ich , meine Eltern und Großeltern zu lokalisieren , und als mir dies gelungen war , schlief ich beruhigt wieder ein .
Die laute Sirene eines Industriewerkes hatte uns alle plötzlich aus dem Schlaf gerissen . Vater schaute auf unseren schönen roten , mitgebrachten „ Junghanswecker ” und stellte fest , dass es sechs Uhr sei – er ahnte noch nicht , dass diese Sirene für ihn schon bald das Zeichen zum frühen Arbeitsbeginn werden und seinen Le - bensrhythmus für die nächsten dreißig Jahre mitbestimmen sollte !
Nach diesem unüberhörbaren Signal kam die „ Baracken ge sell - schaft ” nicht mehr zur Ruhe . Langsam standen alle auf und be - gannen mit der Morgentoilette . Auch mich nahm meine Mutter mit in die Waschbaracke und schrubbte mich kräftig mit der mitgebrachten , „ selbstgekochten Kernseife ”, eine Prozedur , die ich
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