Direktor des Regionalmuseums für Geschichte der Stadt Plewen, Wolodja Popow.
Wenn die Platte wirklich 5000 Jahre alt ist und tatsächlich eine Schrift darauf zu sehen ist, dann könnte sie in der Tat mit den ältesten Schriften konkurrieren: Der Glaube an die Pionierrolle der Sumerer bei der Schriftenwicklung war bisher vor allem durch Entdeckungen in Ägypten erschüttert worden. Auf dem vor der Reichseinigung und der Gründung der ersten Pharaonen dynas- tien entstandenen Königsfriedhof von Abydos wurden beschriftete Verschlusssiegel auf Vorratsgefäßen entdeckt. Die Gräber werden auf die Zeit von bis zu 3320 vor Christus datiert und wären damit älter als die altsumerischen Schriftzeugnisse. Der Ägyptologe Stephan Seidlmayr hat allerdings vor einiger Zeit im „ Welt”- Interview darauf hingewiesen, dass die frühen Schriften Ägyptens und Mesopotamiens vermutlich nicht unabhängig voneinander entstanden sind: „ Sie können sich vorstellen, wie innerhalb von 500 Jahren immer wieder Karawanen zwischen Ägypten und dem Zweistromland Güter und Wissen hin- und hergetragen haben. In diesem Raum erfand man die Schrift. Es war ein Prozess.”
Die Schrift der Donauzivilisation
Chinesische Schriftzeichen sind dagegen bisher nur auf Gegen- ständen belegt, die etwa 3400 Jahre alt sind. Weil um diese Zeit aber bereits rund 5000 Zeichen existierten, vermuten manche, dass die Schrift in China schon viel länger existierte. Da die Zei- chen ausschließlich für Weissagungen in Orakelknochen geritzt wurden, könnte es sein, dass älteres organisches Material einfach verrottet ist.
Noch umstrittener als solche Spekulationen über die chinesische Schrift ist die Theorie, dass die älteste Schrift der Welt in Europa entstanden ist. Sie wird in Deutschland vor allem von Ha- rald Haarmann vertreten. Seiner Hypothese nach habe es in Alt- europa – unter diesem Begriff fast man mittlerweile die Kulturen Europas in der späten Stein- und frühen Bronzezeit vor der Einwanderung der Indoeuropäer zusammen – eine „ Donauzivili- sation” gegeben, die schon 5000 vor Christus über eine Schrift verfügte: Entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse im Südosten Europas habe es Einrichtungen gegeben, die auch aus anderen Regionen mit frühen Zivilisationen bekannt sind: „ Großsiedlun- gen von städtischen Ausmaßen, Ackerbau und Vorratswirtschaft, ein reich verzweigtes Netzwerk spezialisierter Handwerksberufe, Metallverarbeitung und ein differenziertes Repertoire von Kul- tursymbolen."
Tontafeln in Transsylvanien
Zu diesen Kultursymbolen habe laut Haarmann auch eine Schrift gehört, die er in seinem Buch „ Einführung in die Donauschrift”( Buske-Verlag, 24,95 Euro) beschreibt. Als Beweis für deren hohes Alter führt er die Tontafeln von Tartaria in Transsylvanien an, die mit der Radiokarbonmetode auf circa 5300 vor Christus datiert wurden. Haarmann ist zwar kein Scharlatan – sein Buch über die Geschichte der Schrift gilt als Standardwerk, seine Bü- cher werden in höchst renommierten Verlagen wie Beck und Buske veröffentlicht –, aber seine Hypothese von der Donauzivi- lisation und ihrer Schrift ist in Deutschland noch nicht akzeptiert, um nicht zu sagen: Sie ist höchst umstritten.
Das alles muss man wissen, um zu verstehen, warum die neu entdeckte bulgarische Bildschrift als Sensation gilt. Sie könnte die These von der Schrift der Donauzivilisation stützen. Dafür müsste sie aber zunächst einmal von fachkundigeren Spezialisten untersucht werden als nur dem Direktor eines Regionalmuseums. Zwei Tatsachen relativieren den Sensationswert ein wenig: Wenn die Tontafel aus der Zeit um 3000 stammt, wäre sie 2000 Jahre jünger als die ältesten Schriftzeugnisse der Donauzivilisation. Und auch das Hakenkreuz wäre keineswegs das älteste Europas und der Welt – das fand man auf 10 000 Jahre alten Mammutknochen im ukrainischen Mesyn. Auch aus der Vinca-Kultur, die in der Jungsteinzeit ihren Schwerpunkt im heutigen Serbien hatte, aber sich bis Ungarn, Rumänien und Bosnien erstreckte, fand man Keramikfragmente, die mit Swastikas bemalt sind. Der Fundort der neuen Bilderschrift, das Dorf Riben, liegt ebenfalls im Ein- flussbereich der Vinca-Kultur, in Nordbulgarien, nahe der rumänischen Grenze.
Südosteuropa – Hotspot der Archäologen
Die Idee, die Schrift könnte in Europa entstanden sein, erscheint auch heute noch manchen wie der Fiebertraum eines eurozentrischen Amateurs. Haarmann schreibt: „ Jahrzehntelang stand die Schriftforschung unter dem Eindruck der archäologischen Funde in Mesopotamien, durch die immer ältere Kulturschichten des Al- ten Orients aufgedeckt wurden.” Das Licht der frühen Zivilisation schien exklusiv aus dem Osten zu kommen. Doch in den letzten Jahrzehnten haben Grabungsfunde diesen exklusiven Anspruch des Fruchtbaren Halbmonds, alleiniger Ursprung der Zivilisation zu sein, erschüttert. So glaubte man lange Zeit auch, Rad und Wagen seien von den Sumerern erfunden worden – bis in der ukrainischen Steppe, nahe der Urheimat der Indoeuropäer, viel ältere Wagenrelikte aus der Zeit vor mindesten 5600 Jahren ge- fun den wurden. Erst vor wenigen Wochen wurde in Südbulgarien das vermutlich älteste Goldartefakt der Welt aus der Zeit um 4600 vor Christus ausgegraben: ein kleines Schmuckkettenglied mit großem Erkenntniswert.
Es ist sogar noch älter als das Gold auf dem Gräberfeld im bulgarischen Warna am Schwarzen Meer. Dessen Entdeckung im Jahre 1972 bewies, dass sich dort schon ab dem fünften Jahr- tausend vor Christus eine Handelsmetropole entwickelt hatte, die über weit gespannte geschäftliche Kontakte verfügte und in der spezialisierte Handwerker auf hohem Niveau arbeiteten. Warna hat die Vorstellungen von der europäischen Frühgeschichte umgestürzt. Es wird nicht die letzte Revolution unseres Bildes von Alteuropa bleiben.
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Nach der Vertreibung aus Ungarn – Neubeginn in Deutschland
Erste Erkundungen I von Johann Wachtelschneider
Für mich war ein ereignisreicher Tag zu Ende gegangen. Auf meinem einfachen Lager „ Weidenkorb” schlummerte ich bald ein. Ich schlief traumlos, wachte aber mehrmals in der Nacht auf und hörte die Geräusche der Schlafenden, unterbrochen von dem lauten Schnarchen einiger Männer unserer beengten Wohnge mein schaft.
In der Dunkelheit versuchte ich, meine Eltern und Großeltern zu lokalisieren, und als mir dies gelungen war, schlief ich beruhigt wieder ein.
Die laute Sirene eines Industriewerkes hatte uns alle plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Vater schaute auf unseren schönen roten, mitgebrachten „ Junghanswecker” und stellte fest, dass es sechs Uhr sei – er ahnte noch nicht, dass diese Sirene für ihn schon bald das Zeichen zum frühen Arbeitsbeginn werden und seinen Le- bensrhythmus für die nächsten dreißig Jahre mitbestimmen sollte!
Nach diesem unüberhörbaren Signal kam die „ Baracken ge sell- schaft” nicht mehr zur Ruhe. Langsam standen alle auf und be- gannen mit der Morgentoilette. Auch mich nahm meine Mutter mit in die Waschbaracke und schrubbte mich kräftig mit der mitgebrachten, „ selbstgekochten Kernseife”, eine Prozedur, die ich
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