Sonntagsblatt 4/2024 | Page 23

mussten uns so schnell wie möglich auf den Weg in unsere Heimat Ungarn machen .
Beim Einmarsch der Russen waren die Beamten und Angestellten der Gemeindeverwaltung mit den abziehenden deutschen Truppen geflohen . Im Gemeindeamt in Wernsdorf war nur noch eine Gemeindesekretärin anwesend . Von dieser erhielten wir ein offizielles Papier des Gemeindeamtes , das uns und weitere Familien im Nachbardorf als verschleppte Ungarn auswies , die bei ihrer Rückführung nach Ungarn zu unterstützen seien . Damit gelang es , dass für uns auf dem Bahnhof in Kaaden zwei leere Güterwagen zur Verfügung gestellt wurden , die an einen Zug in Richtung Slowakei angekoppelt wurden .
Zunächst ging die Fahrt gut voran . Auf manchen Bahnhöfen wurden wir sogar aufgrund unseres vermeintlich gültigen Papiers mit warmem Essen versorgt . Unsere Güterwagen wurden aber immer öfter vom Zug abgekoppelt und auf einem Nebengleis abgestellt . Die Wartezeiten bis zur Weiterfahrt verlängerten sich und einmal standen wir mehrere Tage außerhalb eines Bahnhofs allein auf weiter Flur .
Als wir endlich nach mehreren Wochen in Pressburg ankamen , waren unsere Lebensmittel fast völlig aufgebraucht . Unser Urgroßvater ging deshalb jeden Tag , manchmal mit mir an der Hand , in die umliegenden Dörfer , um bei den Bauern zu betteln . Auch Mutters und Großmutters Sonntagstrachten , die sie auf die Flucht mitgenommen hatten , wurden gegen Lebensmittel getauscht .
Endlich , nach mehreren Tagen ging es wieder weiter . Als wir in Fünfkirchen angekommen waren , durften wir aber nicht aussteigen , um zu der dort lebenden Schwester meines Vaters zu gehen , sondern wir wurden mit dem Zug nach Willand / Villány gebracht - und dort in ein Flüchtlingslager im Freien am Ende des Dorfes . Als ein plötzlicher starker Regenschauer niederprasselte , flüchteten wir in die leeren überdachten Pferdeboxen an der Wand eines Stalles , die für eine Woche unsere Unterkunft blieben . Da unsere Lebensmittel fast verbraucht waren , wurden wir von Familien mitversorgt , die noch einige Vorräte besaßen .
Erst als sich unsere Mutter bei der Lagerleitung beschwerte , dass sich niemand um uns kümmerte , bekamen wir aus der Offiziersmesse warmes Essen . Und drei Tage später brachten uns zwei Polizisten zum Bahnhof in Willand und übergaben uns am Bahnhof in Deutschbohl an zwei Hilfspolizisten , die uns auf einem Pferdewagen in unser Heimatdorf Burjad transportierten . Dort angekommen mussten wir feststellen , dass wir nicht wieder in unser Haus einziehen konnten , da aus Rumänien vertriebene Ungarn ( Madjaren , Red .) darin wohnten , weil die geflüchteten Schwaben sofort nach Ende des Krieges ohne rechtliche Grundlagen enteignet worden waren . Deshalb nahmen uns zunächst unsere ehemaligen Nachbarn spontan in ihr Haus auf . Schließlich erhielten wir nach harten Verhandlungen die Erlaubnis , in unserem Bauernhaus ein einzelnes Zimmer , das von außen zugänglich war , mit sechs Personen zu beziehen .
Deshalb brachte unsere Mutter meine ältere Schwester zu der Schwägerin unserer Großmutter in Seektschi / Kaposszekcső und mich zu meiner Tante in Fünfkirchen , die mit ihrer Mutter allein in einem schönen
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Stadthaus lebte , da ihr Mann als ungarischer Berufssoldat nach Kriegsende interniert war . Beide Frauen sprachen perfekt Deutsch und Ungarisch und versuchten , auch mir die ungarische Sprache möglichst rasch beizubringen . Das war auch sehr sinnvoll , denn im August wurde ich sechs Jahre alt und damit schulpflichtig . Und obwohl meine Tante die Lehrerin darauf hinwies , dass der kleine Schwabenjunge noch nicht gut Ungarisch konnte , musste ich am Anfang allein in der ersten Bank sitzen , der sog . „ Eselsbank “. Ich empfand das aber nicht als Diskriminierung , sondern als Ansporn , möglichst schnell Ungarisch zu lernen . Da mir dies mit Hilfe meiner Tante auch gut gelang , durfte ich diese Bank schon nach wenigen Wochen verlassen , und in meinem Halbjahreszeugnis hatte ich trotz der anfänglichen Sprachschwierigkeiten nur die beiden besten Noten des fünfstufigen Notensystems , nämlich „ kitűnő “ ( ausgezeichnet ) und „ jeles “ ( sehr gut ).
Ich hatte also eine schöne Zeit bei meiner Tante in Fünfkirchen - mit bester fürsorglicher Betreuung , aber auch Phasen der Traurigkeit , weil ich gelegentlich meine Geschwister , meine Mutter und meine Großeltern vermisste . Zu Ungarn und insbesondere zu Fünfkirchen habe ich aber auch heute noch eine starke emotionale Beziehung . Das ist letztlich auch darin begründet , dass die meisten unserer Verwandten nicht vertrieben wurden und einige noch in Ungarn leben . Seit 1964 besuchten wir sie fast regelmäßig in den Sommerferien und verbanden dies mit unserem Urlaub am Plattensee und später in Harkány , wo wir schließlich eine Ferienwohnung kauften . Diese nutzten wir auch mit der ganzen Familie regelmäßig , nicht nur weil wir uns dort gut erholen konnten , sondern uns auch heimisch fühlten . Aus Altersgründen haben wir sie im vorigen Jahr verkauft .
SB : Wie gestaltete sich die Integration in der neuen Heimat Hessen - mit welchen Herausforderungen haben Sie und Ihre Familie kämpfen müssen ?
JL : Wir wurden , wie die meisten Burjader , im heutigen Rheingau-Taunus-Kreis in Hessen angesiedelt . Nachdem der Zug am 28 . Juni 1946 in Bad Schwalbach im Taunus angekommen war , wurden wir mit bereitstehenden amerikanischen Militärfahrzeugen in verschiedene Lager gebracht . Wir kamen in ein Barackenlager neben einer Fabrik in Kettenbach . Von dort wurden wir nach etwa 3 Wochen in das kleine Bauerndorf Strinz- Margarethä transportiert , wo wir bei einem Bauern ein Zimmer mit ungefähr 16 m ² für die ganze Familie mit sechs Personen zugewiesen bekamen . Nach einigen Wochen wurde uns noch eine winzige Kammer zur Verfügung gestellt , in die nur ein Bett passte , in dem Urgroßvater schlafen konnte .
Wir lebten dort in sehr ärmlichen Verhältnissen von den durch Lebensmittelmarken zugewiesenen Grundnahrungsmitteln und dem geringen Zuverdienst , den Mutter und Großmutter durch Feldarbeit bei den Bauern und unser Urgroßvater durch Korbflechten erwarben . Ich kann mich noch gut daran erinnern , wie Urgroßvater am Dorfbach die Korbweiden schnitt , sie fachmännisch zubereitete und sehr schöne und stabile Körbe flocht , die er auch in den Nachbardörfern zum Kauf oder auch zum Tausch gegen Lebensmittel anbot . Auch die Erträge eines kleinen Stückes sehr steinigen Feldes , das vor allem unsere Großmutter sehr mühselig in einen Garten umgewandelt hatte , und das Sammeln von Bucheckern , Brombeeren und Himbeeren im
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