Die Geburt Jesu in Bethlehem ist keine einmalige Ge-
schichte, sondern ein Geschenk, das immer bleibt.
-(Martin Luther, 1483-1546)
Leitartikel
s
Glaubwürdigkeit fängt bei der Nächs-
tenliebe an
Interview mit Dr. Tamás Fabiny, Landesbischof und Ratsvorsit-
zender der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn
Tamás Fabiny (Foto:24.hu)
SB: Herr Bischof Dr. Fabiny, wir sitzen zusammen bei einem
Kaffee, und ich unterhalte mich mit Ihnen, einem ungari-
schen Geistlichen, auf Deutsch. Für mich, einen ungarn-
deutschen Katholiken, eine eher ungewöhnliche (sprach-
liche) Situation. Wo haben Sie sich die deutsche Sprache
angeeignet?
TF: Als Kind habe ich von meinem Opa Deutsch gelernt. Er
sprach fließend Deutsch wegen der Monarchie-Zeit und wollte
seinen Enkelkindern Deutsch beibringen. Ich denke, er suchte
damit einfach die Gelegenheit, mit den Enkeln zusammen zu
sein. Ich war jede Woche bei ihm und habe auch viele Sachen
auswendig gelernt. Ich gehöre zur Generation, die als erste
Fremdsprache Russisch lernte, und später habe ich am Gym-
nasium Englisch gelernt. Als Stipendiat war ich mehrmals in Er-
langen und habe mein Deutsch dort verbessert. Natürlich war es
nicht so einfach, meine Doktorarbeit auf Deutsch zu schreiben.
SB: Ist Mehrsprachigkeit in der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Ungarn eine Selbstverständlichkeit, insbesonde-
re wenn es um muttersprachliche Seelsorge im Kreise der
ungarländischen Slowaken und Deutschen geht?
TF: Ich sage immer, dass unsere Kirche Evangelisch-Luther-
ische Kirche IN Ungarn genannt werden soll, statt Ungarische
Evangelische Kirche. Mit dieser sprachlichen Feinheit wollen wir
ausdrücken, dass sich sowohl Deutsche als auch Slowaken bei
uns zu Hause fühlen sollen. Im 20. Jahrhundert haben wir leider
viele verloren, die Vertreibung der Deutschen als eine kollektive
Strafe im Jahre 1946/47 war ein großer Verlust für unsere Kirche.
Vor einigen Jahren habe ich an sehr bewegenden Gottesdiens-
ten teilgenommen, z. B. in Agendorf/Ágfalva: Viele, die nichts
mit dem Volksbund zu tun hatten, haben weinend ihre Heimat
verlassen. Dort habe ich auch erfahren, dass der evangelische
Pfarrer die einwaggonierten Leute getröstet hat, und als der Zug
abgefahren ist, läuteten die Glocken im Dorf. Eine sehr schmerz-
hafte Geschichte. Die wenigen, die geblieben sind, bekommen
die muttersprachliche Predigt und Seelsorge.
SB: Sie haben sich vor anderthalb-zwei Jahren, ähnlich wie
die katholischen Bischöfe Miklós Beer aus Waitzen und Já-
nos Székely aus Steinamanger, für mehr Toleranz gegen-
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über den Flüchtlingen ausgesprochen. Was hat Sie dazu be-
wegt, sich in diesem Thema öffentlich zu äußern?
TF: Ich habe am Budapester Ostbahnhof und in Röszke die
große Masse von Flüchtlingen gesehen. Ich war schockiert. Na-
türlich wollte ich helfen, weil ich dachte, dass Gastfreundschaft
zu der Mentalität der Ungarn gehört wie auch die Hilfe für die
Schwächeren. Ich kann mich an 1989 erinnern, als die DDR-
Flüchtlinge bei uns waren, oder an die Situation, als Menschen
vor dem Balkankrieg zu uns flohen. Ich war enttäuscht, dass die
Mehrheit der Bevölkerung dieses Mal zurückhaltend war und
tatenlos geblieben ist. Im Lutherischen Weltbund, wo ich auch
als Vizepräsident aktiv mitgearbeitet habe, war für uns selbst-
verständlich, über Hilfe der Flüchtlinge zu sprechen. Ich wollte
einfach das in Ungarn umsetzen, was wir auf globaler Ebene the-
matisiert haben. Die politischen Zusammenhänge dieser Frage
sind aber sehr komplex. Unser Videoaufruf, den wir zusammen
mit Bischof Miklós Beer veröffentlicht haben, wurde sehr ambiva-
lent aufgenommen. Die Mehrheit hat positiv reagiert, aber eine
kleine und agressive Minderheit hat uns beschimpft.
SB: In Ungarn – anders als in Deutschland, wo sich die EKD
in erster Linie über Kirchensteuereinnahmen finanziert –
hängen fast alle Religionsgemeinschaften von staatlichen
Zuwendungen ab, was teilweise ein Ergebnis der histori-
schen Entwicklung ist. Wie sehen Sie diese finanzielle Ab-
hängigkeit - oder nennen wir sie lieber Nähe zum Staat - per-
sönlich und gäbe es Alternativen dazu?
TF: Eins muss geklärt werden: Die Pfarrer werden nicht von dem
Staat, sondern von den Gemeindemitgliedern bezahlt. Alle akti-
ven Kirchenmitglieder geben der Kirche jährlich eine freiwillige
Summe. Ich kenne viele bewegende Beispiele, die mich an die
biblische Erzählung der Witwe mit zwei Groschen erinnern. Ich
bin davon überzeugt, dass wir noch Reserven hätten, wenn die
Reichen mehr geben würden. In diesem Fall wären wir nicht so
abhängig vom Staat. Die Regierung gibt den christlichen Schulen
und diakonischen Einrichtungen eine normative Summe, ein so-
genanntes Kopfgeld. Dadurch werden diese Institutionen finan-
ziell gesichert. Eine extra Unterstützung der Regierung wäre z.
B. beim Kirchenbau oder Renovierungen notwendig. Hier muss
man sich immer um das Geld bewerben, und bei der Auswertung
spielen vielleicht auch subjektive Faktoren eine Rolle. Deswegen
möchte ich erreichen, dass ein System an geregelter und ge-
rechter Kirchenfinanzierung entsteht.
SB: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen der
Zeit und wie versucht Ihre Kirche den zu begegnen?
TF: Leider ist bei uns die Säkularisation ein großes Problem,
auch wir verlieren viele Gemeindemitglieder. Dagegen wollen
wir eine intensive missionarische Strategie aufbauen. Wir ver-
suchen den Leuten in ihrer Mobilität zu folgen. Viele verlassen
z. B. Nord- und Ostungarn und siedeln sich in der Agglomeration
der Hauptstadt an. Hier wollen wir neue Gemeinden gründen und
möglicherweise neue Kirchen bauen.
SB: Sie pflegen enge Kontakte zu west- und nordeuropäi-
schen evangelischen Gemeinden und deren Landeskirchen
– welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede können Sie
erkennen?
TF: Wir können voneinander lernen, wir brauchen uns nicht zu
verstecken, was die Intensität des Glauben betrifft. In den 40
Jahren der „Wüstenwanderung”, als wir das „rote Meer” überque-
ren mussten, haben wir solche Erfahrungen gesammelt, die wir
mit unseren westlichen Schwestern und Brüdern teilen können.
Gleichzeitig sind wir bereit, die vielen guten Methoden kennen
zu lernen und die theologischen Ergebnisse zu übernehmen, die
zum Erbe der Kirchen gehören, die auch früher in einem demo-
kratischen Land leben durften. Wir müssen einen Dialog führen
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