Sonntagsblatt 4/2016 | Page 28

Nach der Vertreibung aus Ungarn – Neubeginn in Deutschland

Der dritte Tag in Deutschland …

von Johann Wachtelschneider
Großvater war das „ Lagerleben” bereits nach drei Tagen leid ge- wor den, ihn trieb sein Forschungsdrang hinaus aus der Enge des Ruckenlagers. Ihn reizte die wunderschöne, blühende Maienzeit zu einem Ausflug in die herrliche, bergige Gegend um unseren Ankunftsort Wasseralfingen in der schwäbischen Provinz. Als Landwirt und „ Eisbauer” aus Schorokschar zeigte er sich erstaunlich naturverbunden und wollte alles über die Umgebung wissen. Mit mir( damals über sechs Jahre alt) hatte er einen guten Mit- spieler für seine Unternehmungen gefunden. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt sein erster Enkel und ihm war nichts zuviel, wenn er mit mir aktiv werden konnte!
So hatten wir uns bereits am dritten Tage unserer Ankunft auf „ Entdeckungsreise” begeben.
Nachdem wir einige Zeit durch den Wald oberhalb des Lagers gegangen waren, öffnete sich eine Lichtung und ein Gebäude mit danebenstehender Kapelle war zu erkennen: die „ Erzgrube”. Hier sollte viele Jahre später( 1967) meine Hochzeitsfeier stattfinden, bei der fast alle verwandten Lagerinsassen von 1946 anwesend waren, obwohl sie mittlerweile auf viele Gemeinden und Städte in Baden-Württemberg „ verstreut” wurden. Leider war mein geliebter Großvater schon 1965 verstorben.
Die Erzgrube war die Gaststätte der Bergleute aus Wasseral- fingen und Umgebung, die über mehrere Stollen im Berg Eisenerz förderten, welches in den Schwäbischen Hüttenwerken( SHW) – ältestes Industrie-Unternehmen der Welt( 1365!!) – zu Roheisen verhüttet wurde, um dann zu einer breiten Palette an eisernen Produkten verarbeitet zu werden, darunter vor allem Öfen in allen Variationen, die ältesten bereits seit dem 15. Jahrhundert!
Bei unserer Ankunft waren die SHW ein Betrieb mit etwa 2000 Beschäftigten in vielen Abteilungen: Eisengießerei, Walzwerk, Ofenbau, Gesenk- und Freiformschmiede, Stahlzieherei, Maschi- nen- und Weichenbau.
Neben der Gaststätte stand die Kapelle der Bergknappen, in welcher sie vor und nach der Schicht gemeinsam um Gottes Un- ter stützung für ihre gefahrvolle Arbeit im Berg baten.
Für Großvater und mich ging es jetzt steil bergan. Bald hatten wir die Obstgärten des Weilers Röthardt und kurz darauf auch das hochgelegene Dorf erreicht.
Auf einer Schotterstraße, vorbei an einem Weißjura-Steinbruch, der in Betrieb war und von dem eine Seilbahn mit Loren sich ins Tal bewegte, erreichten wir dann das Hochplateau des „ Braunen- berges” – auf 728 Meter.
Hier oben ergab sich eine phantastische Aussicht, und wir konnten unsere vielleicht mögliche neue Heimat, das Schwabenland,( Opa: „ mi is svábok vagyunk!” – seine und damit auch meine Vorfahren mütterlicherseits kamen etwa 1715 aus dem oberschwäbischen Dürmentingen zunächst nach Harast / Dunaharaszti, von wo sie später nach Schorokschar / Soroksár übersiedelten) ausschnittsweise sehen. Dörfer, Städte, Einzelhöfe und vor allem ausgedehnte Waldungen erstreckten sich bis zum Horizont. Beson- ders der steil abfallende West-Trauf der Schwäbischen Alb mit seinen vulkanförmigen Zeugenbergen Stuifen, Rechberg und Ho- hen staufen faszinierte meinen Opa und auch mich. Wir dachten natürlich nicht daran, dass dieses Land bereits begonnen hatte, unsere neue Heimat zu werden. Großvater und ich sahen es bestimmt nur als eine schöne Ausflugsgegend an, in der wir eine kleine Abenteuerreise machen. Diese Impressionen würden bald schon wieder aus unserem Gedächtnis verschwinden … Wir beide glaubten damals fest daran, dass wir bald wieder in unserem schönen, vertrauten Schorokschar sein würden … Nach dem wir die herrliche Aussicht lange genug genossen hatten, machten wir uns auf den Rückweg ins Lager, denn der Hunger hatte sich bei uns bereits gemeldet, und wir beide waren gespannt, was sich wohl in der Zwischenzeit im Lager und speziell in unserer Baracke getan hatte?
Wir wurden natürlich mit Vorwürfen von Großmutter empfangen. Warum wir denn so lange fortgeblieben seien – vielleicht gäbe es überhaupt kein warmes Essen mehr für uns? Mutter konnte aber doch noch zwei Teller Eintopf aus der Lagerküche besorgen, und wir beide ließen uns das einfache Mahl schmecken. Schwarzes, ungewohntes Brot gab es als Beilage. Besonders daran sollten wir uns noch gewöhnen müssen, denn „ unser Brot” aus Schorokschar war weißer und in Budapest und in ganz Ungarn berühmt und geschätzt! Dies hatte aber hier inDeutschland und vor allem bei der einheimischen Bevölkerung keine Bedeutung, denn Brot war sehr knapp und die Qualität zweitrangig!
Der Nachmittag verging für mich mit Spielen mit den anderen Kindern aus den benachbarten Notquartieren. Unsere Spiele mussten jedoch ohne Spielzeuge auskommen, da die meisten Kinder überhaupt keine Spielzeuge aus Ungarn mitgebracht hatten – welche Bedeutung hatte für die Erwachsenen in dieser Situation Spielzeug?!
Nach dem Essen waren meine Eltern mit einigen verwandten jungen Familien, auch einigen jungen Müttern ohne die dazu ge- hörigen Väter( diese waren zur „ Wiedergutmachung” in den Berg- werken des „ Donbass” bei der „ malenkyrobot”) in die „ Stadt” Wasseralfingen gegangen und hatten sich dort umgesehen. Beim Abendessen mit Schmalzbrot wurden die gewonnenen Eindrücke diskutiert, wobei sich auch die anderen Barackenin- sassen beteiligten. Wir Kinder saßen spielend in einer Ecke unseres abgeteilten Terrains und schnappten immer wieder Teile der Gespräche auf, die wir meist nicht verstanden oder zu deuten wussten.
Eine Tatsache blieb mir aber in besonderer Erinnerung: die Feststellung, dass man in den Geschäften fast nichts „ frei” kaufen konnte. Alle Waren, vor allem auch die Lebensmittel, seien kontingiert und könnten nur in Verbindung mit „ Marken” bzw. „ Be- zugscheinen” erworben werden.
Ich fragte meinen Vater, was das zu bedeuten hätte, weil ich gesehen hatte, dass alle anwesenden über diese Erkenntnisse schockiert waren. Er erklärte mir dies an einem Beispiel. Auch ich war über diese Situation sehr enttäuscht, hatte ich doch schon als Knirps im „ Kreislergeschäft” unserer jüdischen Nachbarin, der Tafler-néni, immer wieder Süßigkeiten eingekauft, wenn mir Oma oder Mama einige Fillér zugesteckt hatten. So etwas sollte es also hier in Deutschland nicht mehr geben? Noch ahnte ich nicht, dass alles noch schlimmer kommen sollte. Auch Vater war über diese Mangelverwaltung tief enttäuscht. Er hatte seine gesamten Ersparnisse in Form von hunderten St. István und Horthy Miklós – 5 Pengô-Silbermünzen angelegt. Mit diesem „ Schatz” wollte er nach dem Krieg ein eigenes Haus für uns in Schorokschar kaufen. Sein grüner Soldatenkoffer, der in den letzten Jahren schon so viel erlebt hatte, diente zweckentfremdet als „ Tresor”. Alles Geld, das er in den letzten Jahren im „ Eisgeschäft” einnahm, tauschte er in diese begehrten Silber- münzen. Nachdem die anstehende Vertreibung zur Gewissheit wurde, tauschte er diesen „ Schwabenhort” nun sukzessive in deutsche Reichsmark-Banknoten. Ja, sogar die Erlöse aus seiner Ka- ninchenzucht, die er nach unserer Evakuierung nach Budapest( Nov. 1944) aus Not aufgebaut hatte, tauschte er auf den Schwarz- märkten in der Hauptstadt in RM.
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