Sonntagsblatt 4/2016 | Page 27

in einem Bericht, der in einem Werbungsbüchlein von Adolf J. Schwelm erschien, um neue Siedler aus Deutschland anzuwerben:
„ Im März 1926 traf ich mit meiner Familie in Eldorado ein und kaufte gleich eine Chacra( Landstelle). Da ich nicht übermäßig mit Kapi tal belastet war, so sagte ich mir, zum Lebensunterhalt muss Geld verdient werden, gleich, auf welche Art. Als erstes versuchte ich es mit Zwiebeln, und ich hatte Glück. Aus vier Päckchen Saat konnte ich im November und Dezember 650 Kilogramm zu 0,30 je Kilogramm verkaufen. Das war meine erste Einnahme. Später sorgte ich für Schwei- ne, die mir pro Jahr 500.– bis 600.– Pesos eintrugen. Für Eier habe ich jährlich zusammen mit dem Hühnerverkauf ca. $ 300.– an Ein- nahmen gehabt. Dazu kommen Bohnen und Kartoffeln, deren Verkauf mir ebenso durchschnittlich $ 300.– jährlich eintrug. Und hat man eine Einnahme von 800.– bis $ 1200.– jährlich, so kann man ohne Not leben. Natürlich gehörten dazu eine tüchtige Frau und ein zufriedener Sinn. Meine Jungen verdienen sich ihr Taschengeld, indem sie Knoblauch anpflanzen und verkaufen, was jährlich $ 100.– bis $ 150.– einbringt. Bei diesem Geschäft bin ich Kommissionist ohne Kommis- sion. Dass es mir hier gut gefällt, kann man daraus ersehen, dass ich meinem zweiten Sohn, der bei mir ist und für mich arbeitet, jetzt auch ein Stück Land gekauft habe. Mein Viehbestand setzt sich aus einem Pferd, zwei Arbeitsochsen, zwei Milchkühen, 40 bis 50 Schweinen, 200 Hühnern, Enten, etc. zusammen. Ferner habe ich 20 Bienenvölker. Also man kann zufrieden sein. Aber: Wat denn enen sin Uhl is, is den annern sin Nachtigall.” Eldorado, 1928 Hermann Wachnitz, geb. 1878 in Livland.
Meine Großmutter arbeitete viel im Hof und Garten, sie nähte in der Nacht die Kleidung ihrer Männer, mit dem Licht einer Petromax, ein Luxus damals im Urwald. Die meisten Häuser hatten nur eine Petroleum-Funzel als Licht. Oma war eine sehr gute Hausfrau, sie kümmerte sich um Haus und Garten. Nachmittags besuchte sie die Nachbarn. Sie besaß einen Sulky, einen Pferde- wagen mit zwei großen Rädern aus Holz, an dem ihr Pferd „ Zain” eingeschirrt wurde.
Großvater und die drei Jungen, Siegfried, Hermann und Hans, arbeiteten sich ihre Zukunft auf, indem sie neues Land kauften und es bewirtschafteten. Mein Vater lernte meine Mutter in Bue- nos Aires kennen. Sie war Chefsekretärin beim Verein Deutscher Ingenieure. Eine Stadtfrau, die aus Liebe nach Eldorado zog! Das neue Ehepaar wohnte bei den Großeltern, während sie sich ihr Haus bauten, das eigentlich bloß ein großer Anbau am Haus der Großeltern war. Oma zeigte meiner Mutter, wie man als Hausfrau in der jungen Siedlung zu Recht kam. Beide verstanden sich ausgezeichnet.
Stöckelschuhe contra Kuhstall
Als meine Mutter schon verheiratet war und ungefähr einen Mo- nat im Haus wohnte, sagte Oma zu ihr: „ Hier gibt es vieles zu tun, das hast du ja jetzt gesehen. Eines sage ich dir: In den Kuhstall kommst du mir nicht, mein Kind. Das ist Männersache, nichts für uns Wachnitz-Frauen.” Meine Mutter erinnerte sich noch oft an die Worte meiner Oma. Den Kuhstall hat sie nie betreten. Hier muss ich erwähnen, dass meine Mutter sich als Großstadtmensch sehr gut an Eldorado gewöhnte, was nicht selbstverständlich war. Eigentlich passte sie sich sehr gut an, aber auch auf ihre schicke Kleidung mit Hut, Handschuhen, Stöckelschuhen und Staub- mantel verzichtete sie nie. Sie war bekannt als die Dame mit roter, weißer oder schwarzer Schuh-Handschuh-Hut Garnitur. So etwas gab es praktisch nicht in der Siedlung, es war das Markenzeichen von Mama.
Im Januar 1945 verstarb mein Großvater ganz plötzlich an Herz- versagen. Es war eine unerwartete Trauerzeit.
Einige Monate später kam ich auf die Welt. Eigentlich sollte ich ein Junge werden. Alle vier Geschwister meines Vaters hatten nämlich Familien gegründet, und es wurden nur Jungen geboren. Doch ich war ein Mädchen und wurde viele Jahre „ Mausi” genannt. Ich bin das einzige Mädchen der Generation geblieben, ich hatte keine Cousine. Großmutter war überglücklich, dass sie endlich eine Enkelin hatte. Wir wohnten alle im gleichen, neu ausgebauten Haus. Es half ihr, über den frühen Tod von Opa hinweg zu kommen. An vieles erinnere ich mich noch heute: Oma kämmte mich, sie hat meine Zöpfe geflochten, sie band mir immer schöne Schleifen ins Haar, sie betete mit mir, sie nahm mich im Sulky mit zu den Nachbarinnen. Wir fuhren oft zum Friedhof und besuchten Opas Grab. Wir saßen auf einer weißen Bank und beteten. Dabei erzählte Oma mir über ihr Leben an der Seite meines Großvaters und von meinem Vater, als er ein kleiner Junge war. Eine wahrlich abenteuerliche Geschichte, die für mehrere Leben gereicht hätte.
Großmutter starb 1950, kurz vor meinem 6. Geburtstag. Ganz genau erinnere ich mich an die letzten Tage meiner Oma: Sie war 70 Jahre alt und erkrankte an Meningitis. Mama sagte nochmal am Abend, dass Oma sehr krank sei und sie sterben werde. Doch ich wagte mich heimlich in Omas Zimmer zu schleichen. Ich wollte Oma sehen und mit ihr sprechen, doch sie war kaum wiederzuerkennen. Erschrocken entfernte ich mich, ich hatte sie immer nur mit zu einem Dutt hochgekämmten Haaren gesehen. Als wir Kinder am nächsten Tag aufwachten, gab es viel Bewegung im Haus. Unsere Eltern brachten uns ins Wohnzimmer, da sahen wir Oma im Sarg. Es war wieder meine Oma, mit ihrem Dutt, ihr Netz ums Haar, und sie trug eine ihrer schicken Blusen. Das ist die letzte Erinnerung, die ich von ihr habe.
Heute weiß ich, wie schwer das Leben meiner Oma war: Zuerst gab es das unbeschwerte Leben in Riga, danach die politischen Unruhen, die Familie ist in die Ukraine ausgewandert, der 1. Welt krieg brach aus, und sie hatten schlimme Tage im Arbeits- lager in Sibirien. Dann die Deportierung nach Deutschland. Sie wanderten nach Argentinien in eine ganz andere Welt aus und lebten im Urwald. Sie mussten ganz von vorne anfangen und sich eine Zukunft aufbauen.
Meine Oma sagte oft: Das Schlimmste im Urwald waren die Fliegen, Mücken, Schlangen und sonstiges Ungeziefer. Ich erinnere mich auch, dass Großmutter sehr an ihrer Heimatstadt Riga hing, sie erzählte mir von ihrem Zuhause, das so weit weg war. Ich war zu klein, um dies zu verstehen. Heimweh im wörtlichen Sinn war es nicht, doch sie hätte ihre Familie gerne noch einmal sehen wollen.
Meine Großeltern und mein Vater, alle nach dem 1. Weltkrieg nach Argentinien ausgewandert, waren sehr zufrieden mit ihrem Leben hier. Am Anfang in einer schlichten Siedlung im Walde, wo alles erst aufgebaut werden musste. Doch es herrschte Frieden, Hungersnot kannte man nicht mehr – Gott sei Dank. Die schlimmen Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges verblichen langsam. Sie waren viel zu beschäftigt mit ihrer Arbeit, um ihre Zeit an Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Und das war gut so, Zeit heilt alle Wunden. Sie konnten Land kaufen, viele Pflanzungen anbauen, ihre Häuser errichten, ihre Familien gründen und sich wirtschaftlichen Wohlstand erarbeiten. Enkel und Kinder gaben die fröhliche Note, das Leben ging voran. Europa hingegen war mit den vielen Unruhen, Kriegen und schlimmen Erlebnissen zurück geblieben...
Heute ist Argentinien ein Land, das seit fast zwei Jahrzehnten wirtschaftlich erhebliche Krisen durchgemacht hat und immer noch Schwierigkeiten im wirtschaftlichen und politischen Leben zu bewältigen hat. Dies wirkt sich öfters negativ auf uns aus. Trotzdem hängen wir an unserer Heimat, an der roten Erde inmitten der grünen, subtropischen Natur in Eldorado. Wir leben sicherlich nicht in einem 1. Welt-Land, doch wir lieben diese Heimat, die unsere Vorfahren für uns ausgesucht haben.
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