Sonntagsblatt 4/2016 | Page 25

Siegfried von Vegesack, irgendwie kam es mir bekannt vor. Ich suchte in unserer Bibliothek und fand zunächst nichts... Ich ging in unseren Vorkeller, in dem alte Bücher aufbewahrt werden. Ich suchte nach dem Titel, suchte...und fand das Buch aus dem Jahr 1935 in gotischer Schrift. Auf dem Deckel sieht man kaum noch die drei Zeichnungen, ich war wirklich sehr gerührt. Durch einen Artikel im Globus konnte ich so viel über Riga erfahren, die Heimatstadt meiner Großmutter. Das erwähnte Buch haben wir zu Hause, irgendwann ist es hier im Urwald angekommen... Frau Meßbacher bat mich, die Geschichte meiner Großmutter für den Globus nieder zu schreiben. Eine wahrlich weltumspan- nende Geschichte. So möchte ich mit Ihnen das Ergebnis meiner Erinnerungen teilen... Meine Großmutter hieß Ludmilla Wachnitz, geborene Taube, ge - bo ren in Riga, 1880. Von ihrer Familie besitze ich wenige Daten: Sie wohnten in Riga, und es gab mehrere Geschwister. Nur von einer Schwester, Alice, weiß ich, dass meine Großmutter sie sehr geliebt hat. Sie starb mit 27 Jahren an Tuberkulose. Als ich 2012 das Haus meiner Eltern und Großeltern übernahm, fand ich das Bild von Tante Alice, welches ich einrahmen ließ. Meine Urgroßmutter, Ludmillas Mutter, besaß eine Schule für junge Mädchen, in der sie auf ihre Zukunft als Hausfrauen, Müt - ter, ein würdiges gesellschaftliches Leben zu führen, u.a. vorberei- tet wurden. Oma Ludmilla heiratete Hermann Julius Wachnitz, er war Deutscher, in Heiligensee, Pühajärv, Estland, geboren. Sie bekamen in Riga zwei Kinder, Curt und Edith. Mein Großvater betrieb eine große Ziegelei. Doch bestimmt durch die geschilder- ten politischen Ereignisse, über die im Artikel im Globus berich- tet wurde, entschlossen sie sich um 1907 herum in die Ukraine auszuwandern. Sie ließen sich in Rotovka nieder. Dieser Ort liegt etwa 150 km nordöstlich von Kiew entfernt. Dort baute mein Groß vater wieder eine Ziegelei auf, sie brachten es zu einem gewissen Wohlstand. Es wurden noch zwei Jungen geboren, Sieg - fried, 1909 und Hermann, 1914, mein Vater. Als der Erste Welt - krieg ausbrach, am 28. Juli 1914, begann für die deutschen Fami - lien ein bitterer Weg. „Mit Beginn des 1. Weltkriegs am 28. Juli 1914 endete die Zeit deut- scher Besiedlung schlagartig. Ein unaufhaltsamer Nieder gang setzte ein. Deutschland und Österreich waren jetzt Kriegs gegner, und das Reich des Zar Nikolaus II. geriet sehr schnell an allen Fronten in die Defensive. Zarin Alexandra, eigentlich Alix von Hessen-Darmstadt, war wie viele andere hohe Militärs deutscher Herkunft. Im Volk witter- te man überall Verschwörungen, und das Ansehen der deutschen Minderheit sank rapide. Im Jahr 1917 stürzten Revolution und Bür - gerkrieg das Land in Chaos und Gewalt. Oft genug geriet die Bauern - schaft zwischen die Fronten der erbittert kämpfenden Roten und Weißen. Beide Seiten praktizierten einen erbarmungslosen Terror mit Massenerschießungen und Zwangsrequisitionen. Die Folge waren aus- gedehnte Hungersnöte.” (aus dem Internet: Geschichte der Deutschen Siedlungen in der heutigen Ukraine) Meine Familie, Urgroßmutter, Großeltern und die vier Kinder waren auch schwer von dieser schlimmen Situation um 1915 be - troffen. Binnen zwei Stunden mussten sie eilig Koffer packen, sie wurden nach Sibirien ins Arbeitslager verschleppt. Die unwürdigs- ten menschli chen Situationen gehörten zu ihrem täglichen Leben. Zusätzlich mussten sie gegen die schlimmste Not kämpfen: Hungersnot. Tausende Gefangene starben täglich in der Kälte und verhungerten lebendig, geplagt von Unterernährung und Mangel. „In Russland war die Situation in den Kriegsgefangenenlagern, die häufig in unwirtlichen Gegenden Sibiriens und Zentralasiens lagen, jedoch besonders schlecht. Von den etwa 2,2 Millionen Soldaten der Mittelmächte in russischer Gefangenschaft starben etwa 25%. Berüch - tigt sind die großen Fleckfieber-Epidemien in den ersten Kriegswintern oder der Bau der Murmanbahn.” (Quelle: Wikipedia) Aus der Erinnerung kann ich Folgendes berichten: Mein Großvater war Zwangsarbeiter beim Bau von Eisenbahnschienen, auch Wege und Straßen musste er viele Stunden täglich in einer gebirgigen Zone errichten. Den Namen der Orte kenne ich leider nicht. Oma musste in den Baracken arbeiten. Sie wohnten in einem Waggon, in dem praktisch alles fehlte. Die Kälte war uner- träglich, sie sollen bis -40 Grad Celsius erlebt haben. Persönlich für mich unvorstellbar, denn wir leben im subtropischen Klima. Mein Verstand will nicht akzeptieren, dass meine Familie – wie viele tau- sende anderer Familien – dieser Situation durch den Ersten Weltkrieg ausgesetzt worden war. Erst jetzt, durch den Artikel im Globus, habe ich mich mehr damit befasst, denn man sprach nur selten über diese Zeit bei uns in der Familie. Harte Arbeit und praktisch nichts zu essen, das war ihr Los. Tausende von Gefangenen starben an Hungersnot und an Krankheiten. Da mein Großvater ziemlich gut russisch sprach und ein geselliger Mensch war, ging er nach der Arbeit zu den russischen Bauern, die in der Nähe siedelten. So lernte er ein Ehepaar kennen, die Frau besaß vor mehreren Generationen deutsche Vorfahren. Sie sprach noch einige Brocken Deutsch, die sie gerne mit meinem Großvater übte. Jeden Abend, wenn mein Opa auf den Hof kam, nahm er eine Aluminiumschüssel mit, in der das Bauernehepaar Kartoffeln für ihn und seine Familie bereithielt. Es waren Kar toffeln zweiter Qualität, die nicht verkauft wurden, aber es war ,,Nahrung!” Die Schüssel gehörte zum Haushalt hier, sie war mit dem Hab und Gut der Familie bis Eldorado, Argentinien, mitgereist. Leider ist sie mit den Jahren verschwunden. Bevor ich diesen Teil nieder- schrieb, habe ich eine ähnlich große Schüssel genommen und Kartoffeln hineingelegt, um zu erfahren, welche Menge hinein passte. Ich habe anschließend alles gewogen, es müssten ca. ein- einhalb Kilogramm gewesen sein. Dank dieser Kartoffeln verhun- gerte meine Familie nicht. Dieses Los hat Tausende deutscher Gefan genen in Sibirien getroffen. Hier möchte ich diese Geschichte unterbrechen. Es war sehr rührend von meinem Vater zu erfahren, dass diese russische Bauernfamilie die Generation meiner Großeltern, meiner Eltern und damit auch unsere gerettet hat. Wenn die Familie der Hun - ger tod getroffen hätte, dann könnte ich diese Geschichte heute nicht erzählen. Zu Hause wurde oft betont: Unsere Familie wurde von einem russischen Bauernehepaar in Russland unter Gefan - genschaft durch eine tägliche Schüssel Kartoffeln gerettet. Die groß verbreitete Familie Wachnitz-Dannemann aus Südamerika dankt dieser russischen Bauernfamilie in Sibirien von ganzem Herzen für ihre lebensrettende Unterstützung vor vielen Jahren. Sowohl der Familienname als auch der Wohnort von möglichen Nachkommen dieses Bauernehepaares ist uns unbekannt Doch trotzdem: DANKE, liebe russische Bauernfamilie! Es ist ein kur- zes Wort mit großem Inhalt. Die einzige Tochter meiner Großeltern, Tante Edith, war in die- ser Zeit ein hübsches, junges Mädchen im Lager, was ihr auch Probleme brachte. Sie hatte ihre Gitarre mitgebracht, spielte und sang für die Familie, auch für die Gefangenen und Soldaten. Not ohne Ende Eines Tages merkte meine Großmutter, dass sie wieder schwanger war. Verzweifelt in der Not suchte sie einen Ausweg und wählte den schlimmsten. Sie sprang ins eisige Wasser in einem fast ganz vereisten Fluss oder See. Sie wollte nicht mehr leben, sie brach zusammen und suchte ein schnelles Ende. Doch es sollte so nicht kommen: Mehrere Gefangene sahen dies und witterten die Tra - gödie, die sich beinahe abgespielt hätte. Sie rannten zu meiner Groß mutter, zogen sie schnellstens aus dem praktisch ganz vereis- ten Wasser, wärmten sie auf und retteten ihr damit das Leben. (Fortsetzung auf Seite26) 25