Sonntagsblatt 4/2015 | Page 13

damals war aber die Loyalität der Menschen anderen Sachen, zur Religion, feudalen Beziehungen, zu Blut – und Lokalgemein - schaften verbunden. Diese frühe Nationalität wurde bestimmend, in dem das Bürgertum – oder wo es fehlt der sich verbürgerlichen- de Adel – sie zum Grunde eines neuen historischen Prozess, einer neuen Weltordnung machte. Der moderne Nationsbegriff ist in Frankreich entstanden, von den Franzosen übernahmen ihn die anderen, zur Besinnung kom- menden Nationen. Die französische Nation-Idee betrachtet die Nation als politische Kategorie, band sie zu einem bestimmten Ge biet, einem politischen Institutionssystem, letztendes zum Staat, und identifizierte sie mit der Gesamtheit der Staatsbürger. Der französischen Auffassung nach ist der moderne bürgerliche Staat ein Nationsstaat, in dem nur eine Nation leben kann: all die Glieder von dem sind aber gleichberechtigt. Als Reaktion auf die französi- sche Nationsidee erschien der deutsche Nationbegriff, dessen bestimmende Merkmale das gemeinsame Ethnikum, die Sprache, die volkstümliche Kulturtradition, der „Volksgeist” sind. In dem Nationalbewusstsein der meisten Völker sind die Ele - mente dieser beiden Nationsauffassungen gemischt, je nach dem Maß ihrer historischen Entwicklung. In der ungarischen Nations - auffassung dominierten die Momente der auf dem Grund des his- torischen Rechts stehenden Staatsnation-Konzeption, während in der Ideologie der über keine ganze Feudalgesellschaft und keinen selbständigen Staat verfügenden Nationalitäten der mit dem Naturrecht argumentierende ethnische–sprachliche Nationalis - mus die wichtigste Rolle spielte. Die geistigen Eigenschaften eines Volkes bewahrt am treuesten seine Sprache (Sprachnation), wie Ernst Moritz Arndt schreibt: „So weit die deutsche Zunge klingt. Das ganze Deutschland soll es sein!“ Das National-Erwachen, der Zwang einer selbständigen bürger- lichen–nationalen Entwicklung stellte das historische Ungarn, das vom Anfang an ein Vielvölkerstaat war, vor schwere Aufgaben. Der Vielvölkercharakter hat sich mit d er Zeit noch verstärkt und ist nach dem anderthalb Jahrhundert der türkischen Herrschaft bestimmend geworden. Die nach dem Vertreiben der Türken im 18. und teilweise im 19. Jahrhundert stattgefundene mächtige Völ kerbewegung hat die Proportion der Ungarn (gemeint: Mad - jaren – die Red.) weiter vermindert. Der ersten, 1784–1787 auf Verordnung von Josef dem II. durchgeführten ungarländischen Volkszählung nach hatte Ungarn (Siebenbürgen inbegriffen und die südliche Militärgrenze dazugerechnet) insgesamt ca. 8 170 000– 8 180 000 Einwohner. Die ungarische (madjarische! – die Red.) Bevölkerung machte davon nur noch etwa 3–3,5 Millionen aus. Das Ungartum ist also in seinem eigenen Land in Minderheit geraten der Nationalitätenmehrheit gegenüber. Das Zusammenleben von so vielen Völkern, die Regelung ihrer Beziehung zu einander und zu ihrer gemeinsamen Heimat, ihrem gemeinsamen Staat, also die Nationalitätenfrage wurde zum ge - sell schaftlich–politischen Problem Ungarns, das von entscheiden- der Bedeutung war. Im Aufkeimen ist es schon in dem von Maria Theresia 1777 ausgegebenen großangelegten Bildungs- und Erziehungsreformplan, in Ratio Educationis zu erkennen. Diese Regelung registriert 7 verschiedene „Nationen” in dem Land, nämlich die Ungarn „im engeren Sinne des Wortes genom- menen” (also die Madjaren!), die Deutschen, die Slowaken, die Kroaten, die Ruthenen (Karpato-Ukrainer), die Serben und die Rumänen. Die Vielfalt der Nationalitäten wird auch durch die Unterschiede der Konfessionen und Religionsgemeinschaften so - wie der gesellschaftlichen Gliederung vertieft. Aus der Vielfältigkeit der Nationalitäten, Religionen und Ge - sellschaftsgruppen zieht die Ratio Educationis die richtige Konsequenz, dass das Schulsystem auch nicht uniformisiert sein darf, sondern sich der Vielfältigkeit anpassen muss. Deshalb ist es nötig, dass jede Nationalität mit ihren eigenen muttersprachlichen Schulen und mit Lehrern versehen ist, die nicht nur ihre Mutter - sprache vollkommen beherrschen, sondern überdies auch in den anderen gebräuchlichen Sprachen des Landes bewandert sind. Inwieweit sind diese im Sinne der Aufklärung geborenen Prinzipien in dem Schulsystem zur Geltung gekommen? Grund des neuen, von unten nach oben ausgebauten, klar ge - gliederten Systems bedeutete das Netz von pragmatischen „natio- nalen” Volksschulen, die in drei Formen existierten, nämlich in der dörflichen, in der Marktflecken – und in der städtischen Form. Auf diese, genauer auf die städtische Form war die Mittelschul - bildung basiert. Das fünfjährige, lateinsprachige Gymnasium war in zwei Kursen gegliedert: der Untere war eine dreijährige, soge- nannte grammatische Schule, die – zwar in kürzerer Zeit als die früheren Kleingymnasien – vor allem weiterhin das Beibringen der lateinischen Grammatik erzielte; darauf folgten die oberen zwei Jahrgänge des Gymnasiums. Die Hochschulbildung hatte ebenfalls zwei Stufen: an den zweijährigen königlichen Akade - mien und in der in Ofen/Buda beziehungsweise später in Pest wir- kenden Universität. Die „nationalen” Sprachen kommen auch in der Organisations - struktur des Bildungswesens und im Lehrinhalt zum Ausdruck, wenn auch nicht ausschließlich, sondern neben dem Anerkennen der Notwendigkeit der lateinischen sowie Nützlichkeit der deut- schen Sprache. Die Ratio Educationis unterscheidet unter drei Arten der unteren Elementarschule: es gibt Dorf-, Marktflecken- und Stadtschulen; ein Teil der letzteren ist sogenannte erstrangige oder normale Volksschule zur Lehrerbildung. In den normalen Schulen werden die Kandidaten teilweise auch zum Unterrichten der lateinischen Sprache ausgebildet. Das Deutsche soll allen Elementarschülern beigebracht werden, und zwar dadurch, dass die muttersprachlichen Lehrbüchern auch deutsche Texte beinhal- ten. Aus solchen Lehrbüchern konnten natürlich nur Lehrer unterrichten, die außer der Muttersprache der Schüler auch das Deutsche beherrschen. Die Durchführung der Ratio Educationis nahm unter der Herr - schaft des Sohnes und Thronfolgers Maria Theresias Josephs II. eine Richtung, die den muttersprachlichen Unterricht durch einen deutschsprachigen ersetzen wollte. Der Herrscher machte in sei- nen Sprachverordnungen vom 26. April und 2. August 1784 das Deutsche zur offiziellen Sprache. Von jener Zeit an durften in die untere, grammatische Klasse des Gymnasiums nur Schüler aufge- nommen werden, die auf Deutsch schreiben und lesen konnten, sogar Staatsbeamter und Lehrer durften nur Deutsch beherr- schende Personen werden. Die Sprache der muttersprachlichen Schulen war schon von der ersten Klasse ab das Deutsche. 1787 hat Josef II. sogar verordnet, dass in allen Schultypen jedes Fach auf Deutsch unterrichtet werden muss. Diese Maßnahmen traf er im Glauben, damit „die Brüderlichkeit der Völker des Staates zu fördern und den Staat selbst zu stärken”. Die absolutistischen und verdeutschenden Absichten von Josef dem II. erweckten aber landesweit regen Widerstand. Besonders kräftig reagierte auf die Maßnahmen des Herrschers der schon bürgerliche–nationale Absichten pflegende ungarische Ständena - tio nalismus, der allmählich seiner speziellen nationalen Identität bewusst wurde und seinen Staat in jeder Hinsicht ungarisch (mad - jarisch! – Red.) gestalten wollte. Der heftige Widerstand hat die Staatsmacht zum Zurücktreten gezwungen. 1790 wurde das Un - ga ri sche wieder in seine Rechte gesetzt. Das Deutsche wurde wie- der zum Schulfach, das sogar nicht einmal Pflichtfach war. Den ungarischen Ständen reichten in ihrem Kampf gegen die verdeutschenden Sprach- maßnahmen die restitutio in integrum, (Fortsetzung auf Seite 14) 13