Sonntagsblatt 3/2023 | Page 38

SONNTAGSBLATT UND WISSENSCHAFT

DIE MIGRATION IST SO WIE DAS CORONAVIRUS :

MAN MUSS MIT IHR ETWAS ANFANGEN , ABER ES REICHT NICHT AUS , SICH AUF DAS GUTMENSCHENTUM ZU BERUFEN
Erstmalig erschienen am 20 . November 2020 auf dem Wissenschaftsportal qubit . hu des linksliberalen Nachrichtenunternehmens Magyar Jeti Zrt ., Herausgeber des Portals 444 . hu . Zweitveröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Johanna Rácz . Deutsche Übersetzung : Richard Guth
Diejenigen , die sich bei der Volkszählung von 1941 zum Deutschtum bekannt haben , in welcher Form auch immer , wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen der Kollektivschuld vertrieben , obwohl sie sich auch zum Ungarntum / Madjarentum bekannt hätten . Dieses Schicksal haben diejenigen nicht geteilt , auf deren Arbeitskraft beim Wiederaufbau nicht verzichten konnte , so ist ein Teil der Weindorfer Deutschen der Deportation entgangen , die beim Tagebau arbeiteten , sagte Michael Prosser-Schell , Professor für Kulturantropologie an der Universität Freiburg , auf einer Konferenz des Goethe-Instituts , die am 17 . November 2020 stattfand . Die leer gewordenen Häuser boten sich an , um die aus den wieder abgetretenen Gebieten angesiedelten Massen unterzubringen , die Vertreibung in dieser Beziehung war eher nutzorientiert als ethnisch motiviert .
Die Teilnehmer der Onlinekonferenz „ Auf gemeinsamen Wegen ” - prominente deutsche Gesellschaftswissenschaftler und Timur Vermes , ein deutscher Schriftsteller mit ungarischen Wurzeln – haben die in Ungarn besonders interessante Frage untersucht , welche Narrativen bezüglich Migration bestehen und wie sich diese in der historischen Perspektive entwickelten bezeihungsweise wie sich die historischen Erfahrungen mit der gegenwärtigen Verortung von Migrationsbewegungen verbinden . Es ging dabei auch um das Schicksal der aus Ost- und Mitteleuropa vertriebenen Deutschen , die Unumgänglichkeit der Migration , die unterschiedlichen Migrationsinterpretationen innerhalb der Willkommenskultur , die vin Ungarn aus als einheitlich erscheint , und zum Schluss darum , dass es an der Zeit wäre , eine neue Narrative zu entwickeln .
Wie lebten die Deutschen in ihrer neuen Heimat ?
Wenn wir die Zwangsmigration nach dem Krieg verstehen wollen , müssen wir die Geschichte der Wallfahrten studieren , sagte Prosser-Schell . Die Netztwerke der nach Deutschland vertriebenen Ungarndeutschen wurden von den Behörden des Aufnahmelandes nicht zugelassen , so war der einzige Schauplatz der Bewahrung der Identität zwischen 1947 und Ende der Fünfzigerjahre der katholische Festkreis , die Wallfahrt an Mariä Heimsuchung am 2 . Juli . Die aus Ungarn Vertriebenen wurden in Nord-Württemberg und Nord-Baden angesiedelt , zuerst kamen 82.000 Menschen , deren Zahl bis 1950 auf 210.000 stieg . Es gab solche Regionen , Landkreise in Deutschland , in denen die
Vertriebenen 23 % der Bevölkerung ausmachten . Die Ankommenden wurden aus bayerischen Transitlagern auf das Land verfrachtet , denn die umliegenden Großstädte Karlsruhe , Mannheim derart unter den Kriegsfolgen litten , dass es unmöglich war , diese Menschen aufzunehmen . Die Flüchtlinge wurden in Privathaushalten untergebracht , was die Ablehnung durch die Bevölkerung nur steigerte . Nach einer zeitgenössischen Umfrage hielt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sie für Deutsche , 75 % empfand ihre Ankunft ausdrücklich als eine Last und nur ein Bruchteil der Befragten rechnete mit einem dauerhaften Bleiben dieser Menschen . Der Protest gegen die Neusiedler war mancherorts so stark , dass einige ins Gefängnis kamen , da die Verweigerer bestraft wurden .
„ Bei der Verteilung hat man nicht berücksichtigt , aus welchen Ländern sie kamen , und die Neuankömmlingen durften keine eigene Parteien gründen . Die Netzwerke ließen sie auch deswegen nicht wachsen , um einer Ghettoisierung und politischen Radikalisierung zuvorzukommen ”, sagte der Professor . Die Wallfahrt war die große Gelegenheit , damit sich die Bekannte aus der alten Heimat trafen . Die Beichte wurde vielfach auf Ungarisch abgenommen , deswegen wurde auch ungarisch sprechende Priester zu den Wallfahrten eingeladen und es gab sogar Aufzeichnungen darüber , dass die Festgemeinde die ungarische Hymne sang . Prosser-Schell sprach mit Zeitzeugen , die meinten , dass etwa die Hälfte der Ungarndeutschen besser Ungarisch als Deutsch gekonnt hätte – zum Teil deshalb , weil in der alten Heimat das Minderheitengesetz keine Geltung gefunden hätte , das heißt dass in vielen rein deutschen Dörfer keine deutschsprachige Lehrer in den Schulen gegeben hätte . Für sie war die ungarische ( madjarische ?) Kultur die gewohnte und das Ungarische die Alltagssprache .
Die größten Wallfahrten , von der der Professor Kenntnis hat , fanden 1954 in Tübingen und in der Nähe von Erfurt statt , in der Sowjetisch Besetzten Zone : Dort nahmen 84.000 daran teil . Kurz danach verbot man Wallfahrten in der DDR , ganz im Gegenteil zur BRD , wo die Feste der Heimatvertriebenen zum Forum der politischen Repräsentation wurden – jedenfalls kam es in den 1950er Jahren vor , dass selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer zu mehreren Zehntausend Menschen sprach , was man nach Auffassung des Kulturanthropologen als Ergebnis der Integration werten könnte .