Sonntagsblatt 3/2020 | Page 18

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Ansichten - Einsichten
Schlüsselkompetenzen - in Anlehnung an Georg Sawa und Georg Krix
Von Matthäus Rauschenberger
In Anlehnung an den Beiträgen von Georg Sawa („ Unsere Scheinexistenz dient nur dem Anschein einer Zukunft “ SB4 / 2019 , S . 13-14 ) und Georg Krix („ Gedanken zu einer Merkwürdigkeit “, SB 1 / 2020 , S . 11 )
„ Was wir nicht ändern können , müssen wir ertragen lernen . Was wir nicht ertragen können , müssen wir ändern lernen .“ ( Hermann Bahr )
Merkwürdigkeit
Ehe sich unsere Zeit für Meinungsbeiträge bestens eignet : Der lesende , bürgerliche und selbstbewusste Donauschwabe ist als edelmütiger Mensch nach seiner in Vernunft vollbrachten täglichen Leistungen für die Wirtschaft – sofern sein Arbeitgeber noch nicht in Konkurs gegangen – den unter seinen Zeitgenossen als Ausgangsgrundlage angesehenen geistigen Ertüchtigungen und schließlich : familiären Verpflichtungen aller Art – das Eine das Geheimnis seines Erfolgs und Unterpfand fürs Gedeihen von Mensch und Nation , das Andere das profane Etwas , das nun mal jeder von uns kennt und allgegenwärtig ist – also wirklich ohne es übertreiben zu wollen : Der am Puls der Zeit lebende Volksgenosse ist einfach wie sicherlich jeder einzelne Angehörige unserer doch nicht so großen Gemeinschaft ganz gewiss und ausgesprochen gerne bereit , sich etwas Zeit zu nehmen , um gesellschaftliche Substanz , Entwicklung und Selbstbild seiner sprachlich-kulturell ähnlich geprägten Landsleute in verschiedenen Formaten öffentlich zu handeln . Na dann !
Ein Lebensstil ergibt sich
Die oben angesprochenen Artikel zum Thema , mit den bestens zutreffenden Feststellungen von Georg Sawa “ Es herrscht eine Schönrederei vor “, fortgeführt mit entsprechenden Wünschen nach Kommentaren und Rückmeldungen diverser Art von Georg Krix ( Gedanken zu einer Merkwürdigkeit ), darüber , wo sich die ungarndeutsche Gemeinschaft hinsteuert , muss man zunächst einmal gesagt haben , – und das ist nur die Perspektive eines 26-jährigen Sonntagsblatt-Lesers mit Hochschulabschluss – dass insofern eine solche Beschäftigung nicht als eine Art Hobby , hoch priorisiertes Lebensziel oder ad absurdum erfüllender Sinn der eigenen Existenz angesehen wird , einfach keiner Zeit für sowas hat . Und das ist auch gut so !
Denn es kann auch nicht realistisch erwartet werden , dass es die Aufgabe eines jeden Einzelnen sein muss , sich mit dem Selbstbild seiner kompletten gesellschaftlichen Klasse – in unserem Fall der Angehörigen einer bestimmten Ethnie im Land - der Deutschen in Ungarn – wissenschaftlich auseinanderzusetzen . Dieser Aufgabe stellt sich auch von der Mehrheitsbevölkerung oder sonstigen vitalen Ethnien des Landes keiner . Wenn wir beim ehrlichen Ton angelangt sind – es ist ja nur eine Meinung – sehen wir es schnell ein : Auch in anderen Ländern wird die angesprochene Thematik kaum von jemanden so genau überlegt . Denn es besteht keine Notwendigkeit .

„ Die » Zugehörigkeit » als solche ist nämlich weniger eine kognitive als eine emotionale Erscheinung .“ ( Georg Sawa ) s

Denn ohne nachdenken zu müssen bekommt man einen Namen , eine Hautfarbe , eine Staatsbürgerschaft , jede Menge Urkunden , es wird zu einem in einer bestimmten Sprache gesprochen usw . All das sind Eindrücke , die auf uns wirken und auf die wir reagieren . Sie gestalten unseren Alltag und geben uns ein Gefühl davon , was für uns selbstverständlich ist . Anhand dieser Selbstverständlichkeiten entsteht ein System , in dem man nach seinen Merkmalen seinen Platz und alles seinen gewöhnlichen Ablauf hat . Es bedarf von den Einzelnen keiner Neudefinierungen , nur Akzeptanz . Das Rad muss nicht neu erfunden werden und es rollt trotzdem .
Entwicklung eines neuen Lebensstils
Man wird also in eine Realität hineingeboren , es besteht bereits ein detailliert gestaltetes Narrativ , das bis zum kleinsten Detail ausformuliert ist und das auf alle anfallenden Fragen eine Antwort gibt . Diese Realität wird nach Entscheidungen der geistigen Elite der jeweiligen Gesellschaft geschaffen , von der persönlichen Umgebung mitgetragen und diese wird bei Bedarf wiederum von den Anhängern dieser Elite umgestaltet .
Dies bedeutet aber nicht , dass keine Möglichkeit besteht , nach Notwendigkeit innerhalb einer Gemeinschaft ein eigenes Narrativ zu schaffen . Ein Beispiel dafür kommt sogar aus dem Königreich Ungarn : Als Reaktion auf die Forcierung der ungarischen Sprache in einer davor nie da gewesenen Intensität bildete sich aus einer Schicht ähnlich sprechender und denkender ungarischer Staatsbürger eine exklusive Elite aus und fing an sich anders als bisher zu definieren . Die aus Budapest geführte aggressive Magyarisierungspolitik hat - ohne es zu wollen - in breiten Kreisen der Bevölkerung das zuvor kaum existente slowakische Nationalbewusstsein erweckt und vorangetrieben : Die meisten Bürger Oberungarns und ihre bisherige Elite - der größtenteils madjarisch-chauvinistisch gesinnte Adel - haben sich entfremdet . Als Ergebnis wurden das Königreich Ungarn und Europa um ein Volk reicher . Obwohl der Ausdruck „ Slowake “ erst seit dem 16 . Jahrhundert belegt ist , leben 2020 in der Welt rund 6 Millionen Slowaken , die meisten von ihnen in dem nach ihnen benannten unabhängigen Staat und die allermeisten haben wahrscheinlich noch nie persönliche Entwicklungsarbeit an ihrer eigenen nationalen Identität leisten müssen - von Angehörigen vieler jüngerer Nationen ganz zu schweigen .
Zusammenfassend kann man also feststellen , dass die Entwicklung einer immunen nationalen Identität zwar eine eigene Elite voraussetzt , jedoch nicht von jedem einzelnen Mitglied dieser Gemeinschaft mitdefiniert werden muss . Wird man mehreren Kulturen angehörend zu einer Entscheidung ( in den meisten Fällen eher : Priorisierung ) zwischen diesen gezwungen , so entscheidet man sich gezwungenermaßen mit großer Wahrscheinlichkeit für die Alternative , die momentan die meisten - vor allem emotionale - Vorteile bietet . Ein weiterer Aspekt einer solchen emotionalen Entscheidung ist , in welchem Kontext sie ( wenn überhaupt ) getroffen werden muss . Dass sich die Antwort auf eine die Selbstdefinition und damit verbundene Eigenschaften betreffende Frage – wie es der menschlichen Logik auch entspricht – stets nach dem Zweck der Fragenden richtet , liegt auf der Hand . Unsere Selbstdefinitionen , die in ihrem Ausdruck stets als gegebene Reaktionen situativ zu interpretieren sind , machen nur in dem Narrativ einen Sinn , in dem die betreffenden Fragestellungen formuliert wurden . Auf verschiedene Arten von Fragestellungen und der dahintersteckenden Narrativen kann man aus der Geschichte unseres Landes zahlreiche Beispiele nehmen .
Wettbewerb der Lebensstile
Ein oft zitiertes Beispiel für die Bereitschaft des Einzelnen , sich den von der Elite vorgegebenen Narrativen anzupassen , also auch das Selbstbild in aller Öffentlichkeit zu verändern , bietet der allbekannte Fall der Stadt Kaschau , wo die Bürger der Stadt in kürzester Zeit zweimal Zeugnis zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit ablegen mussten . Wiesen im Jahre 1910 von den 44.211 Kaschauer Bürgern noch 33.350 eine ungarische und 6.547 eine slowakische Identität auf , so konnte man 1919 bei einem geringen Wachstum und noch geringerer Fluktuation der Bevölkerung von den 46.820 Einwohnern nur noch 17.991 Angehörige eines ungarischen und 22.858 der neuen , tschechoslowakischen Selbstbildes registrieren . Hat sich die humantechnische Zusammensetzung der Stadt nicht verändert , so kann der Grund dieser Veränderung nur die Veränderung des Narrativs sein : neu ent-
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