Sonntagsblatt 3/2019 | Page 16

Jugendliche einkreisten und riefen: «Hände hoch, Hitlerist!» Tag für Tag war er gezwungen, einen Teil des Weges mit erhobenen Armen zu gehen. Senkers Eltern wollten eine bessere Zukunft für die Kinder. «Und sie wollten unter Deutschen leben», erinnert sich Senker. Am 23. August 1970, dem Tag, an dem die Sozialistische Republik Ru- mänien die «Befreiung vom faschistischen Joch» feierte, reisten die Senkers nach Deutschland aus: von Siebenbürgen mit dem Nachtzug nach Bukarest, dann im Flugzeug nach Frankfurt. Für Wienfried Senker bedeutete der Abschied von Rumänien die Trennung von Jugendfreunden. Doch schienen die Verlockungen der Bundesrepublik die Nachteile aufzuwiegen. Senker studierte in München Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Als in Ru- mänien das kommunistische Regime weggefegt wurde, kehrte er als Managementberater in seine alte Heimat zurück. Während dreier Jahre leitete er das Büro der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Bukarest. Humanitäre Mission? Hüsch, der deutsche Unterhändler, sieht sein Lebenswerk als humanitäre Mission. Er fand es beleidigend, als ihn ein Journalist einmal als «guten Menschenhändler» charakterisierte. Das sei eine bösartige Auslegung seiner Tätigkeit, zumal die Rumänien- deutschen freiwillig ausgereist seien. Hart ins Gericht mit dem rumänisch-deutschen Freikaufabkom- men geht der emeritierte Theologieprofessor Paul Philippi. In Hermannstadt empfängt der 94-Jährige* in seiner Wohnung ge- genüber der Stadtpfarrkirche. Er braucht einen Gehstock, sonst aber fast keine Hilfe. «Diese Abkommen haben einen enormen Schaden angerichtet», beklagt er. Dass jeder alleine über die Ausreise entschieden habe, bezeichnet der noch immer enga- giert argumentierende Philippi als «Kollektivillusion». Oft hätten selbst die Pfarrer Siebenbürgen den Rücken gekehrt und damit eine Ausreisewelle ausgelöst. «Marschiert der Leithammel weg, zieht die Herde hinterher», umschreibt Philippi das Phänomen. Die evangelische Kirche sei in ihrem Bemühen, die Pfarrer in der Gegend zu halten, katastrophal gescheitert. Der scharfzüngige Theologe war 1983 von einer Professur an der Universität Heidelberg freiwillig nach Rumänien zurückgekehrt. «Wir sind Teil einer Minderheit, die hierhergehört.» Die geheimen Aussiedlerabkommen hätten die deutschsprachige Gemein- schaft in Rumänien nahezu zerstört, fügt Philippi an. Da in der Ceausescu-Diktatur keine offene Diskussion über das Bleiben oder Gehen stattfinden konnte, entstand nach Philippis Analyse ein von der panischen Angst, allein im Gefängnis-Staat zurück- zubleiben, erzeugter Sog. Er habe das Schicksal der rumänien- deutschen Minderheit als Volksgruppe besiegelt. In der Volks- zählung von 2011 deklarierten sich nur noch 36 000 Personen oder 0,18 Prozent der rumänischen Bevölkerung als Deutsche, vorwiegend Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben. Dem gilt es freilich hinzuzufügen, dass die Ausreisewelle unter dem Ceausescu-Regime zwar massiv anschwoll, sich aber auch nach der Wende fortsetzte. Tausende von Rumäniendeutschen wanderten nach der Wende «nach oben» aus, wie man die geo- grafisch nördlich gelegene Bundesrepublik heute noch nennt. Wenngleich die deutsche Minderheit zahlenmässig massiv schrumpfte, ist sie keineswegs ausgestorben. Mit Klaus Iohan- nis amtiert seit 2014 zum ersten Mal ein Rumäniendeutscher als Staatschef. Wie kaum ein anderer Politiker des zweitärmsten EU-Landes steht der ehemalige Bürgermeister von Hermann- stadt für Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen die Korrup- tion, die nach der Wende stark zunahm. Warten auf Oberst Andronic Wie die deutsche Stasi hat die rumänische Securitate ihre Opera- tionen akribisch dokumentiert; Einnahmen verbuchte sie auf den Pfennig genau. Im Archiv ausserhalb von Bukarest reihen sich ihre Akten über mehrere Kilometer hinweg. Allerdings erzählt ein Mitarbeiter, dass nach der Revolution von 1989 kistenweise Do- kumente in einer Kehrichtverbrennungsanlage gefunden worden 16 seien. Einige angebrannte Seiten konnten von Experten rekons- truiert werden. Vieles mehr dürfte in Rauch aufgegangen sein. In den vergangenen Jahren haben Arbeiten von Historikern und Journalisten das «Dossier Recuperarea» (Rückgewinnung) – wie es in Rumänien heisst – umfassend ausgeleuchtet. Gleichwohl bleibt manches ungeklärt: Was ist mit all den Geldern passiert, die auf Konten der rumänischen Aussenhandelsbank, aber auch der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel geflos- sen sind? Die Aussenhandelsbank rasselte in den neunziger Jahren in einen betrügerischen Bankrott. Einige Konten waren plötzlich geleert, und Securitate-Leute wurden auf wunderbare Weise zu kleinen Oligarchen. Einer, der mehr wissen müsste, heisst Stelian Octavian Andronic, ein ehemaliger Oberst der Securitate, Leiter der Devisen-Son- deroperationen, zuvor in der Gegenspionage und während sechs Jahren der Verhandlungspartner von Hüsch. Die Bitte um ein Gespräch schlägt Andronic, der für den Aussennachrichten- dienst auch in der rumänischen Botschaft in Bern auf Posten war, nicht rundweg ab. «Rufen Sie in einer Woche wieder an», weist er den rumänischen Mitarbeiter der NZZ an. Er müsse schauen, ob er Zeit finde, beteuert Andronic, der nach der Wende mit dem deutschen Unterhändler Hüsch über Tankstellen und Flugzeuge ins Geschäft kommen wollte. Beim nächsten Anruf schlägt Andronic das Café Ambience beim Parcul Floreasca vor. In dem Lokal kostet der Kaffee doppelt so viel wie anderswo in Bukarest. Das «Ambience» grenzt an das einstige Nomenklatura-Quartier, wo Ceausescu eine schwülstige Villa mit eigenem Kino und Innenpool bewohnte. Der vereinbarte Zeitpunkt ist schon längst vorbei. Seine Frau macht am Telefon kurzerhand gesundheitliche Probleme geltend. Weitere Versu- che blockt die Gemahlin in den folgenden Monaten freundlich, aber dezidiert ab. Andronic, auch er schon in den Achtzigern, mag tatsächlich mit den Bürden des Alters kämpfen. Offenkundig noch gut im Schuss ist derweil ein anderer Spitzenmann des berüchtigten Geheimdienstes: Constantin Anghelache, ein promovierter Wirt- schaftswissenschafter. Der ehemalige Oberstleutnant präsidierte bis 2015 den Fussballklub Dinamo Bukarest. Der Telefonanruf dauert weniger als fünf Sekunden: Ein Interview? «Nein.» Dann verstummt die Leitung. ____________________________________________ * Der Theologieprofessor Paul Philippi ist nach den Recherchen zu diesem Artikel im Juli 2018 verstorben. Quelle: https://www.nzz.ch/international/zu-verkaufen-rumae- niendeutsche-ld.1428265 Mikrokosmos Ost- und Mitteleuropa s Deutsche Volksgruppen Mit dem Schulbus ziehen sie aus Ungarn aus (Iskolabusszal vonulnak ki Magyarországról) Von Ádám Kolozsi, erschienen am 21. 05. 2019 auf dem Portal index.hu. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Deutsche Übersetzung: Richard Guth Nicht nur die Erwachsenen pendeln täglich nach Österreich: Im- mer mehr Familien in der Grenzregion schicken ihre Kinder auf Schulen jenseits der Grenze. Die Schulen im Burgenland werben in ungarischen Zeitungen. In Folge dessen können die Eltern viel SoNNTAGSBLATT