Jugendliche einkreisten und riefen: «Hände hoch, Hitlerist!» Tag
für Tag war er gezwungen, einen Teil des Weges mit erhobenen
Armen zu gehen.
Senkers Eltern wollten eine bessere Zukunft für die Kinder. «Und
sie wollten unter Deutschen leben», erinnert sich Senker. Am 23.
August 1970, dem Tag, an dem die Sozialistische Republik Ru-
mänien die «Befreiung vom faschistischen Joch» feierte, reisten
die Senkers nach Deutschland aus: von Siebenbürgen mit dem
Nachtzug nach Bukarest, dann im Flugzeug nach Frankfurt.
Für Wienfried Senker bedeutete der Abschied von Rumänien die
Trennung von Jugendfreunden. Doch schienen die Verlockungen
der Bundesrepublik die Nachteile aufzuwiegen. Senker studierte
in München Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Als in Ru-
mänien das kommunistische Regime weggefegt wurde, kehrte
er als Managementberater in seine alte Heimat zurück. Während
dreier Jahre leitete er das Büro der Deutschen Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit in Bukarest.
Humanitäre Mission?
Hüsch, der deutsche Unterhändler, sieht sein Lebenswerk als
humanitäre Mission. Er fand es beleidigend, als ihn ein Journalist
einmal als «guten Menschenhändler» charakterisierte. Das sei
eine bösartige Auslegung seiner Tätigkeit, zumal die Rumänien-
deutschen freiwillig ausgereist seien.
Hart ins Gericht mit dem rumänisch-deutschen Freikaufabkom-
men geht der emeritierte Theologieprofessor Paul Philippi. In
Hermannstadt empfängt der 94-Jährige* in seiner Wohnung ge-
genüber der Stadtpfarrkirche. Er braucht einen Gehstock, sonst
aber fast keine Hilfe. «Diese Abkommen haben einen enormen
Schaden angerichtet», beklagt er. Dass jeder alleine über die
Ausreise entschieden habe, bezeichnet der noch immer enga-
giert argumentierende Philippi als «Kollektivillusion». Oft hätten
selbst die Pfarrer Siebenbürgen den Rücken gekehrt und damit
eine Ausreisewelle ausgelöst. «Marschiert der Leithammel weg,
zieht die Herde hinterher», umschreibt Philippi das Phänomen.
Die evangelische Kirche sei in ihrem Bemühen, die Pfarrer in der
Gegend zu halten, katastrophal gescheitert.
Der scharfzüngige Theologe war 1983 von einer Professur an der
Universität Heidelberg freiwillig nach Rumänien zurückgekehrt.
«Wir sind Teil einer Minderheit, die hierhergehört.» Die geheimen
Aussiedlerabkommen hätten die deutschsprachige Gemein-
schaft in Rumänien nahezu zerstört, fügt Philippi an. Da in der
Ceausescu-Diktatur keine offene Diskussion über das Bleiben
oder Gehen stattfinden konnte, entstand nach Philippis Analyse
ein von der panischen Angst, allein im Gefängnis-Staat zurück-
zubleiben, erzeugter Sog. Er habe das Schicksal der rumänien-
deutschen Minderheit als Volksgruppe besiegelt. In der Volks-
zählung von 2011 deklarierten sich nur noch 36 000 Personen
oder 0,18 Prozent der rumänischen Bevölkerung als Deutsche,
vorwiegend Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben.
Dem gilt es freilich hinzuzufügen, dass die Ausreisewelle unter
dem Ceausescu-Regime zwar massiv anschwoll, sich aber auch
nach der Wende fortsetzte. Tausende von Rumäniendeutschen
wanderten nach der Wende «nach oben» aus, wie man die geo-
grafisch nördlich gelegene Bundesrepublik heute noch nennt.
Wenngleich die deutsche Minderheit zahlenmässig massiv
schrumpfte, ist sie keineswegs ausgestorben. Mit Klaus Iohan-
nis amtiert seit 2014 zum ersten Mal ein Rumäniendeutscher als
Staatschef. Wie kaum ein anderer Politiker des zweitärmsten
EU-Landes steht der ehemalige Bürgermeister von Hermann-
stadt für Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen die Korrup-
tion, die nach der Wende stark zunahm.
Warten auf Oberst Andronic
Wie die deutsche Stasi hat die rumänische Securitate ihre Opera-
tionen akribisch dokumentiert; Einnahmen verbuchte sie auf den
Pfennig genau. Im Archiv ausserhalb von Bukarest reihen sich
ihre Akten über mehrere Kilometer hinweg. Allerdings erzählt ein
Mitarbeiter, dass nach der Revolution von 1989 kistenweise Do-
kumente in einer Kehrichtverbrennungsanlage gefunden worden
16
seien. Einige angebrannte Seiten konnten von Experten rekons-
truiert werden. Vieles mehr dürfte in Rauch aufgegangen sein.
In den vergangenen Jahren haben Arbeiten von Historikern und
Journalisten das «Dossier Recuperarea» (Rückgewinnung) – wie
es in Rumänien heisst – umfassend ausgeleuchtet. Gleichwohl
bleibt manches ungeklärt: Was ist mit all den Geldern passiert,
die auf Konten der rumänischen Aussenhandelsbank, aber auch
der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel geflos-
sen sind? Die Aussenhandelsbank rasselte in den neunziger
Jahren in einen betrügerischen Bankrott. Einige Konten waren
plötzlich geleert, und Securitate-Leute wurden auf wunderbare
Weise zu kleinen Oligarchen.
Einer, der mehr wissen müsste, heisst Stelian Octavian Andronic,
ein ehemaliger Oberst der Securitate, Leiter der Devisen-Son-
deroperationen, zuvor in der Gegenspionage und während
sechs Jahren der Verhandlungspartner von Hüsch. Die Bitte um
ein Gespräch schlägt Andronic, der für den Aussennachrichten-
dienst auch in der rumänischen Botschaft in Bern auf Posten war,
nicht rundweg ab. «Rufen Sie in einer Woche wieder an», weist
er den rumänischen Mitarbeiter der NZZ an. Er müsse schauen,
ob er Zeit finde, beteuert Andronic, der nach der Wende mit dem
deutschen Unterhändler Hüsch über Tankstellen und Flugzeuge
ins Geschäft kommen wollte.
Beim nächsten Anruf schlägt Andronic das Café Ambience beim
Parcul Floreasca vor. In dem Lokal kostet der Kaffee doppelt so
viel wie anderswo in Bukarest. Das «Ambience» grenzt an das
einstige Nomenklatura-Quartier, wo Ceausescu eine schwülstige
Villa mit eigenem Kino und Innenpool bewohnte. Der vereinbarte
Zeitpunkt ist schon längst vorbei. Seine Frau macht am Telefon
kurzerhand gesundheitliche Probleme geltend. Weitere Versu-
che blockt die Gemahlin in den folgenden Monaten freundlich,
aber dezidiert ab.
Andronic, auch er schon in den Achtzigern, mag tatsächlich
mit den Bürden des Alters kämpfen. Offenkundig noch gut im
Schuss ist derweil ein anderer Spitzenmann des berüchtigten
Geheimdienstes: Constantin Anghelache, ein promovierter Wirt-
schaftswissenschafter. Der ehemalige Oberstleutnant präsidierte
bis 2015 den Fussballklub Dinamo Bukarest. Der Telefonanruf
dauert weniger als fünf Sekunden: Ein Interview? «Nein.» Dann
verstummt die Leitung.
____________________________________________
* Der Theologieprofessor Paul Philippi ist nach den Recherchen
zu diesem Artikel im Juli 2018 verstorben.
Quelle: https://www.nzz.ch/international/zu-verkaufen-rumae-
niendeutsche-ld.1428265
Mikrokosmos Ost- und Mitteleuropa
s
Deutsche Volksgruppen
Mit dem Schulbus ziehen sie aus
Ungarn aus
(Iskolabusszal vonulnak ki Magyarországról)
Von Ádám Kolozsi, erschienen am 21. 05. 2019 auf dem Portal
index.hu. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des
Autors.
Deutsche Übersetzung: Richard Guth
Nicht nur die Erwachsenen pendeln täglich nach Österreich: Im-
mer mehr Familien in der Grenzregion schicken ihre Kinder auf
Schulen jenseits der Grenze. Die Schulen im Burgenland werben
in ungarischen Zeitungen. In Folge dessen können die Eltern viel
SoNNTAGSBLATT