bis heute kein Politiker eine beruhigende Antwort zu geben. Aber
ist denn die ganze Zivilisationsgeschichte nicht gerade eine Kette
von Einflüssen durch Zuwanderung, Austausch über Handel und
Begegnung? Ist es nicht so, dass Europas kulturelle Identität gera-
de im ständigen Wandel und Einfluss von außen liegt?
Auf Ungarn bezogen sind seine Worte als eine Antwort auf den
Seelenzustand des Landes zu verstehen. In einem Land, wo die
ungelöste Integration der Roma in vielen Landesteilen bereits zu
ernsthaften Konflikten zwischen Roma und Nichtroma führt, und
wo die Gefahr groß ist, politisch einfache Antworten auf komple-
xe Fragen zu bieten. In Zeiten von Krisen, Umwälzungen und
rapidem sozialen Wandel wächst die Angst vor Überfremdung,
dem Verlust von Besitzständen. Das Erscheinen des Fremden, des
Andersartigen löst nicht nur in Westeuropa Ängste aus. Das
Schreckgespenst des Multikulturalismus, bekannt in der politi-
schen Terminologie rechtskonservativer politischer Gruppie -
rungen, erscheint im ungarischen Kontext womöglich aber nur als
politisches Produkt. Dennoch können falsch verstandene Signale
verheerende Auswirkungen haben, gerade in einer vom
Lagerdenken geprägten Öffentlichkeit.
Denn gerade im Falle Ungarns von Homogenität zu sprechen,
ist äußerst problematisch, auch wenn sich dabei eine Denkweise
offenbart, die die ungarische Politik seit mindestens Mitte des 19.
Jahrhunderts bestimmt: Das Ziel der sprachlichen, kulturellen
und ethnischen Homogenisierung Ungarns, bei Aufrechterhal -
tung liberaler minderheitenpolitischer Scheinfassaden. Das
Denken, nur der Madjare sei Herr im Lande, wirkt bis heute nach:
So ist es nicht verwunderlich, dass man oft den Eindruck be -
kommt, das Minderheitendasein in Ungarn wäre nichts weiter als
ein Potemkinsches Dorf, wo Kultur, Identität und Sprache mit der
Vorführung einstudierter Darbietungen gleichzusetzen wären.
Angesichts dieses Befundes mag Viktor Orbán Recht haben, mit
seiner These eines homogenen Landes. Historisch betrachtet sind
seine Worte jedoch nicht aufrechtzuerhalten, denkt man an die
wechselvolle ungarische Geschichte mit ständigen kulturellen Ein -
flüssen nicht zuletzt durch Zuwanderung. So ist auch die Reaktion
der Minderheitenvertreter in Ungarn zu verstehen, die ihren
Protest angemeldet haben (leider nicht unsere LdU). Aber nicht
nur sie: Auch das Institut für Minderheitenforschung der Unga -
rischen Akademie der Wissenschaften sah sich gezwungen, öffent-
lich zu protestieren. Eine wissenschaftliche Stätte! Es ist interes-
sant zu beobachten, wie wenig die ungarische politische Elite auf
die Klagen der Minderheiten zu hören imstande war: Die Folgen,
Stichwort Trianon, sind bekannt. Und auch der gegenwärtigen
ungarischen politischen Elite gelingt es genauso wenig, den
Fehlern der Vergangenheit ins Auge zu schauen, anstelle immer
noch, nach gut 95 Jahren, Trauerarbeit zu leisten. Oder gar Ho -
mo genisierung zu propagieren und gleichzeitig nach außen mit
einer mustergültigen Minderheitenpolitik zu prahlen.
Antimultikulti und Illiberalismus gehen dabei im gegenwärtigen
politischen Kurs Hand in Hand. Der Ruf nach einer starken
Hand, nach Autorität, wird in Zeiten der Verunsicherung immer
lauter, was letztendlich den Verlust nicht nur des Geistes des Mul -
tikulturalismus, sondern auch den Niedergang zivilgesellschaftli-
chen Handlungsspielraumes bedeuten könnte. Zentralisierung
und Homogenisierung würden dann auch das Ziel der Stärkung
der kulturellen Autonomie der ungarländischen Minderheiten
zunichte machen. Geopfert am Altar des politischen Alltags -
geschäfts.
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DAS SONNTAGSBLATT
Bereits vor Jahren in der FAZ erschienen –
doch auch heute immer noch ein aktuelles Thema:
Was ist national?
Von Johann Georg Reißmüller
Das Wort „national” in seiner früheren Bedeutung gibt es im poli-
tischen Sprachschatz nicht mehr. Wenn über etwas zu reden oder
zu schreiben ist, das mit dem Nationalen zu tun hat, wird es „natio-
nalistisch” genannt. Ein Politiker, wo in der Welt auch im mer, der
eine nationale Frage aufwirft oder ein nationales Inte resse ver-
ficht, findet sich deshalb als „nationalistisch” beschrieben. Damit
ist die Steigerungsstufe von national zu nationalistisch aufgeho-
ben, der Unterschied eingeebnet zugunsten des Schär feren.
Soll es dann, in gleicher Weise, keine sozialen und liberalen
Ordnungen, Parteien, Politiker mehr geben, sondern nur noch
sozialistische und libera1istische? Auf diese Idee kommt niemand.
Man achtet peinlich darauf, „sozial” von „sozialistisch” abzuschot-
ten: und „liberalistisch” ist ohnehin längst aus dem politischen
Wörterbuch gestrichen.
Wie kam es zum Monopol des Eigenschaftswortes „nationalis-
tisch”? Ein großer Teil der in den Medien Tätigen will viel von
dem, was „national” meint, nicht gelten lassen, will es disqualifi-
zieren. Wichtige nationale Politik