Sonntagsblatt 2/2019 | Page 23

päischer Standards. Dies alles sowie die Europabegeisterung in Nordirland angesichts des drohenden Brexit zeigt, dass die ursprünglichen Motive und Ideale der EU überall dort relevant sind, wo sie noch nicht verwirklicht oder gefährdet sind. Diese Prozesse europäischer Integration sind jedoch nicht, wie wir lan- ge etwas geschichtsvergessen geglaubt haben, unumkehrbar. Friede und Wohlstand sind keine Selbstverständlichkeit, sondern stellen in der Geschichte eher die Ausnahme dar. Daran gilt es sich heute zu erinnern, um das Erreichte wertzuschätzen und die Probleme mit Entschiedenheit anzugehen. Wieso – so frägt man sich jedoch – treffen die Krisen die Idee eines vereinten Europas so hart, wo doch - trotz aller Defizite - die letzten 60-70 Jahre zweifellos eine Erfolgsgeschichte waren? Denn: Jeder Blick zurück in das 19. Jhdt. und die erste Hälfte des 20. Jhdt. Lehrt uns, dass Europa nie reicher und friedlicher war als heute. Ich möchte den folgenden Überlegungen die These zugrunde legen, dass es sich primär um geistige und ethische Orientie- rungskrisen mit einer wirtschaftlichen, politischen und kulturel- len Dimension handelt und erst in zweiter Linie um institutionelle Probleme. Also, die Blickrichtung einmal umdrehen! Ich möchte die Frage Europa quo vadis? dabei entlang klassischer Prinzi- pien der katholischen Sozialethik – Solidarität und Gemeinwohl und, so sei hinzugefügt, Versöhnung -thematisieren. Max Weber hat einmal geschrieben, dass die Geschichte von Interessen und Ideen bestimmt ist. Ich gehe also davon aus, dass wir es heute vor allem mit einem Defizit an wirksamen und praktizierten hu- manen und geistigen Ideen zu tun haben. Ein zweiter die folgenden Überlegungen leitender, stärker struk- tureller Gedanke stammt von dem 2009 verstorbenen liberalen Soziologen und Sozialphilosophen Ralf Dahrendorf. Er hat das Verhältnis von liberaler Wirtschaftsordnung und liberaler politi- scher Ordnung treffend als Quadratur des Kreises charakteri- siert. Während nämlich die national verankerte demokratische Politik auf dem Grundsatz der Gleichheit basiere (one man one vote), sei die liberale Wirtschaftsordnung tendenziell anti-egali- tär. Die Globalisierung hat diese im System grundgelegte Span- nung nochmals radikal verschärft. Sie konnte durch Politik und Interessenverbände nämlich nur solange halbwegs ausgegli- chen werden, als Staat und Wirtschaft über weite Strecken noch deckungsgleich waren. Wirtschaft in Europa: Krise der Solidarität und des Gemein- wohlgedankens Die soziale - später öko-soziale - Marktwirtschaft war ein Kind der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Sie ermöglichte in allen Ländern Europas ein in der Geschichte einmaliges Maß an sozialem Aus- gleich, nicht zuletzt durch die Bereitstellung einer Vielzahl öffent- licher Güter und trug so zu einer gerechteren Verteilung der er- wirtschafteten Vermögen bei gleichzeitiger starker Erhöhung der Produktivität bei. Dieser so genannte rheinische Kapitalismus verlor angesichts der Globalisierung teilweise seine institutionel- le Grundlage. „Die Stürme der Globalisierung haben“ – wie der deutsche Politikwissenschaftler Hauke Brunkhorst formuliert - „die wichtigsten Funktionssysteme und Wertsphären der Gesell- schaft aus ihren nationalstaatlichen Verankerungen gerissen“. Die der Globalisierung zugrunde liegenden technischen Erfin- dungen revolutionierten in nur 30 Jahren alle Lebensbereiche. Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedin- gungen änderten sich seit den 1980er Jahren radikal. Dies gilt vor allem für die Wirtschaft. Durch die Möglichkeit globaler Kom- munikation in Echtzeit wurde ein globaler Markt überhaupt erst geschaffen und die Entstehung globaler Wertschöpfungsketten ermöglicht. Ein Ende der Entwicklung sowie ihre langfristigen Folgen für Europa sind noch nicht absehbar. Eindeutig ist jedoch, dass neben Produktivitätsgewinnen aufgrund globalen Wettbe- werbs auch massive Ungleichgewichte entstanden sind. Die technisch induzierte Globalisierung war überdies von einer ideellen Komponente begleitet, die der deutsche Soziologe Ul- rich Beck als Globalismus bezeichnet hat. Diese Unterscheidung ist insofern sinnvoll als der Globalismus anders als die Globalisie- rung durch politische Entscheidungen und eine situationsgemä- ße Anwendung der libertär-wirtschaftlichen Ideologie grundsätz- lich beeinflussbar ist. Ihr Grundgedanke ist, dass der von allen SoNNTAGSBLATT Restriktionen befreite entfesselte, grenzenlose globale Markt die ultimative Verwirklichung wirtschaftlicher Freiheit darstellt, die immer und überall zu mehr Wohlstand führt. Staatliche Ein- griffe jeglicher Art sind hier kontraproduktiv und wirken sich not- wendig wirtschaftlich nachteilig aus. Die dahinter stehende Vor- stellung eines ökonomischen Gleichgewichtsdenkens geht von der mechanistischen Vorstellung aus, dass sich Markt-Gleichge- wichte jedenfalls langfristig von selbst einstellen. John Meynard Keynes, der große britische Ökonom der Nachkriegszeit, hat dies mit britisch-pragmatischem Humor einmal so kommentiert: „but in the long run we are all dead.“ Und weiter: . „Economists set themselves too easy, too useless a task if in tempestuous seasons they can only tell us that when the storm is long past the ocean is flat again.“ Seine eigene ökonomische Theorie, die den Staat als Stimulator der Wirtschaft in die Pflicht nimmt, basiert auf den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Diesem antietatistischen Gleichgewichtsdenken eignet so ein anarchistischer Zug. Es wird heute vor allem von der neuen Rechten in den USA und (wenn auch hier weniger radikal) in Eu- ropa vertreten und findet durchaus auch im katholischen Raum seine Fürsprecher. Der Globalismus mit seiner radikalen Skepsis gegenüber wirtschaftspolitischer Steuerung führte verbunden mit der Globalisierung zu unterschiedlichen Krisen (Nahrungsmittel- krisen, Energiekrisen). Als am dramatischsten erwiesen sich die Finanzkrisen, die sich nach der Deregulierung der globalen Fi- nanzmärkte 1991 multiplizierten, vor allem jene von 2008, deren Folgen bis heute spürbar sind. Die damals notwendigen „Ban- kenrettungen“ ließen die Staatsschulden in vielen europäischen Ländern stark ansteigen. Noch schwerer wiegt, dass das Mene- tekel einer weiteren Finanzsystemkrise nach Ansicht praktisch aller Experten bisher in keiner Weise gebannt werden konnte. Globalisierung und Globalismus führten zudem zu Reichtums- konzentrationen, die jenen vor dem Ersten Weltkrieg vergleich- bar sind. Für wirtschaftliche Großakteure, Unternehmen wie Ban- ken, erweist sich der Wegfall nationaler Verankerungen insofern als vorteilhaft, als sie sich so staatlichen Regulierungen und ihrer Steuerpflicht teilweise oder zur Gänze entziehen können. Der Wettbewerb unter Staaten führt zudem zu einem bottom down race hinsichtlich von Gewinn- und Unternehmenssteuern und er- möglicht die nicht marktkonforme Aushandlung von Steuervor- teilen und Subventionen. Ein schon skurriles Beispiel dafür ist, dass der Großkonzern Apple Irland, dem Land in der EU mit den niedrigsten Gewinnsteuern und damals noch einer der höchs- ten Staatsverschuldungen aufgrund des Bailouts einer Bank, Steuern von Milliarden Euro nachzahlen sollte. Irland lehnte dies ab, um seinen Standortvorteil für Großunternehmen nicht zu ge- fährden und sollte dazu von der zuständigen EU-Kommission gezwungen werden. Diese Vermögens¬konzentrationen sind aus sozialen, aber auch aus wirtschafts- und demokratiepoliti- schen Gründen besorgniserregend. Konzerne können aufgrund ihrer schieren Finanzmacht die Entstehung von Gesetzen durch Lobbying ebenso wie deren Auslegung zu ihren Gunsten beein- flussen und die öffentliche Meinungsfreiheit einschränken. Dafür zwei Beispiele: Eine mir bekannte Handelsrichterin antwortete auf meine Frage, warum Prozesse gegen Großunternehmen und Banken so lange dauern, dass die Zahl der Richter in keinem Verhältnis zur Zahl der, überdies um vieles besser bezahlten Rechtsanwälte, Steuerprüfer, Wirtschaftstreuhänder usw. stehe, die von Seiten der Großunternehmen den Prozess begleiten. Massive finanzielle Ressourcen verschaffen so wirtschaftlichen Großakteuren Vorteile, ohne dass Korruption im Spiel ist, die die Rechtserstellung- und -durchsetzung darüber hinaus gefährdet. Sie (Anm.: die finanziellen Ressourcen) können zudem einge- setzt werden, um die öffentliche Meinung in eine genehme Rich- tung zu lenken und Kritik zu unterbinden. So sagte, um auch hier ein Beispiel zu nennen, vor einigen Jahren ein Universitätsdo- zent für Wirtschaftswissenschaften in einer Radiosendung etwas flapsig, dass die Hypo-Alpe-Adria ihre mitteleuropäischen (Kon- zern)-Töchter wohl schwer an den Mann bringen werde, was den Schaden mutmaßlich erhöhe. Wiewohl sich diese Aussage als durchaus fundiert erwies, erhielt er noch am selben Tag ein Fax der Rechtsanwälte dieser damals vom österreichischen Staat mit Milliarden gestützten Bank mit einer Klagedrohung und der Auf- forderung 10 000 Euro zu zahlen. Er setzte sich mit einem Artikel in einer Tageszeitung zur Wehr, worauf, wie ich erfuhr, die Ange- (Fortsetzung auf Seite 24) 23