päischer Standards. Dies alles sowie die Europabegeisterung
in Nordirland angesichts des drohenden Brexit zeigt, dass die
ursprünglichen Motive und Ideale der EU überall dort relevant
sind, wo sie noch nicht verwirklicht oder gefährdet sind. Diese
Prozesse europäischer Integration sind jedoch nicht, wie wir lan-
ge etwas geschichtsvergessen geglaubt haben, unumkehrbar.
Friede und Wohlstand sind keine Selbstverständlichkeit, sondern
stellen in der Geschichte eher die Ausnahme dar. Daran gilt es
sich heute zu erinnern, um das Erreichte wertzuschätzen und die
Probleme mit Entschiedenheit anzugehen.
Wieso – so frägt man sich jedoch – treffen die Krisen die Idee
eines vereinten Europas so hart, wo doch - trotz aller Defizite -
die letzten 60-70 Jahre zweifellos eine Erfolgsgeschichte waren?
Denn: Jeder Blick zurück in das 19. Jhdt. und die erste Hälfte
des 20. Jhdt. Lehrt uns, dass Europa nie reicher und friedlicher
war als heute.
Ich möchte den folgenden Überlegungen die These zugrunde
legen, dass es sich primär um geistige und ethische Orientie-
rungskrisen mit einer wirtschaftlichen, politischen und kulturel-
len Dimension handelt und erst in zweiter Linie um institutionelle
Probleme. Also, die Blickrichtung einmal umdrehen! Ich möchte
die Frage Europa quo vadis? dabei entlang klassischer Prinzi-
pien der katholischen Sozialethik – Solidarität und Gemeinwohl
und, so sei hinzugefügt, Versöhnung -thematisieren. Max Weber
hat einmal geschrieben, dass die Geschichte von Interessen und
Ideen bestimmt ist. Ich gehe also davon aus, dass wir es heute
vor allem mit einem Defizit an wirksamen und praktizierten hu-
manen und geistigen Ideen zu tun haben.
Ein zweiter die folgenden Überlegungen leitender, stärker struk-
tureller Gedanke stammt von dem 2009 verstorbenen liberalen
Soziologen und Sozialphilosophen Ralf Dahrendorf. Er hat das
Verhältnis von liberaler Wirtschaftsordnung und liberaler politi-
scher Ordnung treffend als Quadratur des Kreises charakteri-
siert. Während nämlich die national verankerte demokratische
Politik auf dem Grundsatz der Gleichheit basiere (one man one
vote), sei die liberale Wirtschaftsordnung tendenziell anti-egali-
tär. Die Globalisierung hat diese im System grundgelegte Span-
nung nochmals radikal verschärft. Sie konnte durch Politik und
Interessenverbände nämlich nur solange halbwegs ausgegli-
chen werden, als Staat und Wirtschaft über weite Strecken noch
deckungsgleich waren.
Wirtschaft in Europa: Krise der Solidarität und des Gemein-
wohlgedankens
Die soziale - später öko-soziale - Marktwirtschaft war ein Kind
der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Sie ermöglichte in allen Ländern
Europas ein in der Geschichte einmaliges Maß an sozialem Aus-
gleich, nicht zuletzt durch die Bereitstellung einer Vielzahl öffent-
licher Güter und trug so zu einer gerechteren Verteilung der er-
wirtschafteten Vermögen bei gleichzeitiger starker Erhöhung der
Produktivität bei. Dieser so genannte rheinische Kapitalismus
verlor angesichts der Globalisierung teilweise seine institutionel-
le Grundlage. „Die Stürme der Globalisierung haben“ – wie der
deutsche Politikwissenschaftler Hauke Brunkhorst formuliert -
„die wichtigsten Funktionssysteme und Wertsphären der Gesell-
schaft aus ihren nationalstaatlichen Verankerungen gerissen“.
Die der Globalisierung zugrunde liegenden technischen Erfin-
dungen revolutionierten in nur 30 Jahren alle Lebensbereiche.
Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedin-
gungen änderten sich seit den 1980er Jahren radikal. Dies gilt
vor allem für die Wirtschaft. Durch die Möglichkeit globaler Kom-
munikation in Echtzeit wurde ein globaler Markt überhaupt erst
geschaffen und die Entstehung globaler Wertschöpfungsketten
ermöglicht. Ein Ende der Entwicklung sowie ihre langfristigen
Folgen für Europa sind noch nicht absehbar. Eindeutig ist jedoch,
dass neben Produktivitätsgewinnen aufgrund globalen Wettbe-
werbs auch massive Ungleichgewichte entstanden sind.
Die technisch induzierte Globalisierung war überdies von einer
ideellen Komponente begleitet, die der deutsche Soziologe Ul-
rich Beck als Globalismus bezeichnet hat. Diese Unterscheidung
ist insofern sinnvoll als der Globalismus anders als die Globalisie-
rung durch politische Entscheidungen und eine situationsgemä-
ße Anwendung der libertär-wirtschaftlichen Ideologie grundsätz-
lich beeinflussbar ist. Ihr Grundgedanke ist, dass der von allen
SoNNTAGSBLATT
Restriktionen befreite entfesselte, grenzenlose globale Markt
die ultimative Verwirklichung wirtschaftlicher Freiheit darstellt,
die immer und überall zu mehr Wohlstand führt. Staatliche Ein-
griffe jeglicher Art sind hier kontraproduktiv und wirken sich not-
wendig wirtschaftlich nachteilig aus. Die dahinter stehende Vor-
stellung eines ökonomischen Gleichgewichtsdenkens geht von
der mechanistischen Vorstellung aus, dass sich Markt-Gleichge-
wichte jedenfalls langfristig von selbst einstellen. John Meynard
Keynes, der große britische Ökonom der Nachkriegszeit, hat
dies mit britisch-pragmatischem Humor einmal so kommentiert:
„but in the long run we are all dead.“ Und weiter: . „Economists
set themselves too easy, too useless a task if in tempestuous
seasons they can only tell us that when the storm is long past
the ocean is flat again.“ Seine eigene ökonomische Theorie,
die den Staat als Stimulator der Wirtschaft in die Pflicht nimmt,
basiert auf den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er
Jahre. Diesem antietatistischen Gleichgewichtsdenken eignet so
ein anarchistischer Zug. Es wird heute vor allem von der neuen
Rechten in den USA und (wenn auch hier weniger radikal) in Eu-
ropa vertreten und findet durchaus auch im katholischen Raum
seine Fürsprecher. Der Globalismus mit seiner radikalen Skepsis
gegenüber wirtschaftspolitischer Steuerung führte verbunden mit
der Globalisierung zu unterschiedlichen Krisen (Nahrungsmittel-
krisen, Energiekrisen). Als am dramatischsten erwiesen sich die
Finanzkrisen, die sich nach der Deregulierung der globalen Fi-
nanzmärkte 1991 multiplizierten, vor allem jene von 2008, deren
Folgen bis heute spürbar sind. Die damals notwendigen „Ban-
kenrettungen“ ließen die Staatsschulden in vielen europäischen
Ländern stark ansteigen. Noch schwerer wiegt, dass das Mene-
tekel einer weiteren Finanzsystemkrise nach Ansicht praktisch
aller Experten bisher in keiner Weise gebannt werden konnte.
Globalisierung und Globalismus führten zudem zu Reichtums-
konzentrationen, die jenen vor dem Ersten Weltkrieg vergleich-
bar sind. Für wirtschaftliche Großakteure, Unternehmen wie Ban-
ken, erweist sich der Wegfall nationaler Verankerungen insofern
als vorteilhaft, als sie sich so staatlichen Regulierungen und ihrer
Steuerpflicht teilweise oder zur Gänze entziehen können. Der
Wettbewerb unter Staaten führt zudem zu einem bottom down
race hinsichtlich von Gewinn- und Unternehmenssteuern und er-
möglicht die nicht marktkonforme Aushandlung von Steuervor-
teilen und Subventionen. Ein schon skurriles Beispiel dafür ist,
dass der Großkonzern Apple Irland, dem Land in der EU mit den
niedrigsten Gewinnsteuern und damals noch einer der höchs-
ten Staatsverschuldungen aufgrund des Bailouts einer Bank,
Steuern von Milliarden Euro nachzahlen sollte. Irland lehnte dies
ab, um seinen Standortvorteil für Großunternehmen nicht zu ge-
fährden und sollte dazu von der zuständigen EU-Kommission
gezwungen werden. Diese Vermögens¬konzentrationen sind
aus sozialen, aber auch aus wirtschafts- und demokratiepoliti-
schen Gründen besorgniserregend. Konzerne können aufgrund
ihrer schieren Finanzmacht die Entstehung von Gesetzen durch
Lobbying ebenso wie deren Auslegung zu ihren Gunsten beein-
flussen und die öffentliche Meinungsfreiheit einschränken. Dafür
zwei Beispiele: Eine mir bekannte Handelsrichterin antwortete
auf meine Frage, warum Prozesse gegen Großunternehmen und
Banken so lange dauern, dass die Zahl der Richter in keinem
Verhältnis zur Zahl der, überdies um vieles besser bezahlten
Rechtsanwälte, Steuerprüfer, Wirtschaftstreuhänder usw. stehe,
die von Seiten der Großunternehmen den Prozess begleiten.
Massive finanzielle Ressourcen verschaffen so wirtschaftlichen
Großakteuren Vorteile, ohne dass Korruption im Spiel ist, die die
Rechtserstellung- und -durchsetzung darüber hinaus gefährdet.
Sie (Anm.: die finanziellen Ressourcen) können zudem einge-
setzt werden, um die öffentliche Meinung in eine genehme Rich-
tung zu lenken und Kritik zu unterbinden. So sagte, um auch hier
ein Beispiel zu nennen, vor einigen Jahren ein Universitätsdo-
zent für Wirtschaftswissenschaften in einer Radiosendung etwas
flapsig, dass die Hypo-Alpe-Adria ihre mitteleuropäischen (Kon-
zern)-Töchter wohl schwer an den Mann bringen werde, was den
Schaden mutmaßlich erhöhe. Wiewohl sich diese Aussage als
durchaus fundiert erwies, erhielt er noch am selben Tag ein Fax
der Rechtsanwälte dieser damals vom österreichischen Staat mit
Milliarden gestützten Bank mit einer Klagedrohung und der Auf-
forderung 10 000 Euro zu zahlen. Er setzte sich mit einem Artikel
in einer Tageszeitung zur Wehr, worauf, wie ich erfuhr, die Ange-
(Fortsetzung auf Seite 24)
23