Die packende Geschichte von Sándor
Kocsis: Volksheld, Flucht und Tragik
Ein Artikel von Maximilian Schmeckel, erschienen am 5. 2. 2018
auf dem Internetportal für Sport goal.com/de. Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Er wurde WM-Torschützenkönig, war gefeierter Held. Später
musste Sándor Kocsis fliehen - und starb tragisch durch den Fall
aus einem Fenster.
Hintergrund
An einem heißen Julitag im Jahr 1979 prallte ein Körper auf den
glühenden Asphalt vor dem Hospital Quironsalud in Barcelona,
westlich des Parque Güell. Ein Mann war auf dem Boden aufge-
prallt und durch den vier Stockwerke tiefen Fall sofort tot. Wenig
später die Gewissheit: Der Tote war Sándor Kocsis, einer der
größten Stürmer aller Zeiten. Torjäger des tragischen ungari-
schen Wunderteams von 1954. Drei Monate vor seinem 50. Ge-
burtstag starb Kocsis schwerkrank und fernab seiner Heimat.
Geboren wurde Kocsis am 21. September 1929 in Budapest.
Seine Eltern waren deutscher Abstammung und Kocsis wurde
als Alexander Wagner geboren. Durch die Magyarisierung des
Königreichs Ungarn, also das Angleichen der Nicht-Magyaren an
die magyarische Bevölkerung, kam er zu dem Namen, mit dem
er Fußball-Geschichte schrieb.
Kindheit auf der Straße
Er wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen in der Metropole Buda-
pest auf. Es war eine harte Zeit für die einst so stolze Stadt, in der
1896 die erste U-Bahn Europas eröffnet wurde. Im 1. Weltkrieg
aber musste die Industrie der Hauptstadt schwere Schläge er-
leiden, Kocsis‘ Kindheit war geprägt von Lebensmittelknappheit
und: vom Fußball.
Denn die Kinder der Arbeiter trieben sich zwischen verlassenen
Fabrikgebäuden und in den engen Gassen herum und fanden
Gefallen am Herumkicken provisorisch aus Lumpen, Leder-
resten und anderen Materialien hergestellter Bälle. Später war
Kocsis vor dem Tor auch deshalb so ein Improvisationskünstler,
der den Ball aus allen Lagen im Tor unterbrachte, weil er in seiner
Kindheit gewohnt war, auf unebenem Untergrund mit Bällen zu
spielen, die nie ganz rund waren.
Aufstieg zum besten Stürmer Ungarns
Er trat mit einem Freund dem Verein Kőbányai TC bei, wo er,
nun mit richtigen Bällen, so viele Tore schoss, dass er bald im
Stadtviertel bekannt war und Talentsichter von Ferencváros TC
anlockte, dem großen ungarischen Klub, bei dem so viele große
ungarische Spieler ihre Anfänge erlebten. Kocsis schoss Tore am
Fließband, auch während des 2. Weltkriegs, in dem Ungarn an
Deutschlands Seite kämpfte, wurde der Spielbetrieb nicht einge-
stellt, sodass der heranwachsende Kocsis bei Kriegsende bester
Gesundheit war. Im Februar 1945 übernahm die Sowjetunion die
Kontrolle in der Hauptstadt, und Kocsis nahm das Angebot aus
dem Ferencváros-Lager an.
Dort erzielte er nach Anfangsproblemen 63 Tore in 60 Spielen. Er
war einer der besten Stürmer des Landes, was ihn in den Fokus
von Honvéd Budapest rückte. Der Klub aus dem Stadtteil Kispest
wurde vom Verteidigungsministerium zum Armeeklub gemacht.
Das Ziel: eine der besten Mannschaften Europas zu werden und
so den Kommunismus in die Welt zu tragen und seine Überle-
genheit zu demonstrieren.
Armeeklub Honved wird zur Macht
Die mit Legende Ferenc Puskás und József Bozsik ohnehin
schon herausragend bestückte Mannschaft wurde subventio-
niert, wo es nur ging - und mit den besten Spielern des Landes
verstärkt. Gusztáv Sebes, Nationaltrainer und stellvertretender
Verteidigungsminister in Personalunion, übernahm die Geschi-
cke und baute auf das Geheiß von Trainer-Pionier Béla Gutt-
mann eine taktisch und individuell herausragende Mannschaft.
sonntagsblatt
Stars wie Zoltán Czibor, László Budai, Gyula Lóránt, Gyula Gro-
sics und eben auch Kocsis wurden allesamt quasi zwangseinge-
zogen und verstärkten das Mannschaftsgerüst um Puskás. Die
Idee Sebes‘ war so simpel wie einleuchtend: Wie es in Österreich
oder Italien gang und gäbe war, sollten auch in Ungarn die bes-
ten Spieler in Verein und Nationalteam zusammen spielen und
so eingespielter sein als die Konkurrenz. Die sportlichen Kon-
glomerate der Sowjetunion und ihr Erfolg beruhten später auf
ebendiesem Prinzip.
Und Sebes‘ Idee ging auf: Honvéd wurde auf Anhieb zweimal
Meister, wiederholte das 1952 und 1954. 24, 30, 36 Tore lautete
Kocsis‘ Bilanz in den ersten drei Jahren Honvéd. Das Konzept
ging nicht nur sportlich, sondern auch politisch auf. Denn das
ungarische Volk, das sich stets gegen das sowjetische Regime
stellte, liebte das Fußballteam trotzdem. Puskás, Grosics und
Kocsis waren die Helden der frühen Fünfziger.
Eigentlich hätte Kocsis gar nicht bleiben dürfen
Kocsis nannten sie Goldköpfchen, wegen seiner blonden Haare
und seiner Kopfballstärke, die ein Teil seines beeindruckenden
Repertoires war. Er hatte einen Instinkt, wie man ihn nicht lernen
kann, war beidfüßig, pfeilschnell, handlungsschnell, technisch
begabt und hatte bei all den Vollbluttorjäger-Qualitäten auch
noch stets das Auge für den Nebenmann. In der bisherigen Fuß-
ball-Geschichte gab es kaum einen kompletteren Stürmer.
Dabei sah die Politik Josef Stalins gar nicht vor, dass Puskás und
Kocsis bleiben durften. Denn beide waren Ungarndeutsche mit
magyarisierten Namen. Die Hälfte der Ungarndeutschen wurde
unter Stalin ausgewiesen, die andere Hälfte wurde staatenlos.
Hohe Ämter wurden nicht an Ungarndeutsche vergeben und
Diskriminierung stand an der Tagesordnung. Puskás und Kocsis
half, dass sie so herausragende Fußballer waren. So waren sie
unabdingbar für den sportlichen Erfolg, den Stalin ähnlich wie
Hitler politisch nutzen wollte.
Puskás, Kocsis, Hidegkuti: Kongeniales Trio
Bereits 1948 hatte Kocsis in der ungarischen Nationalmann-
schaft debütiert, in den Fünfzigern war Ungarn eine eingespielte
Elf, die von Sebes taktisch hervorragend weiterentwickelt wurde.
Der Trainer adaptierte das von seinem Landsmann aus der Not
geborene System mit einem hängenden Mittelstürmer und instal-
lierte einen Mann namens Nándor Hidegkuti als Falsche Neun-
ein Schachzug, der voll aufging. Mit 23 wurde Kocsis Olympia-
sieger, er war die Speerspitze einer überragenden und heute
legendären Offensive.
Puskás als linker Mittelstürmer, Kocsis als rechter und Hidegkuti
als hängende Spitze und Mixtur aus Spielmacher und Angreifer
bildeten ein kongeniales Trio, das nicht nur das Beste der dama-
ligen Zeit war, sondern stilprägend für spätere Taktiker wie Cruyff
oder Guardiola war. Denn die ungarische Offensive war ein Vor-
reiter des Totalen Fußballs, der später in die Geschichte einging.
Wembley-Demonstration und Bern-Schock
1953 schlug Ungarn in Wembley England mit 6:3. Es war der
erste Sieg einer Mannschaft außerhalb der britischen Inseln
und weit mehr als das: Ungarn hatte die stolzen Engländer an
die Wand gespielt, gedemütigt. 35:5 Torschüsse standen am
Ende in der Statistik. Es war der Beginn des Wunderteams, der
Aranycsapat, der Goldenen. Auf der Rückreise wurden sie über-
all gefeiert, in Paris auf rauschende Feste eingeladen.
In der Heimat herrschte Aufbruchstimmung. Im Jahr des Todes
von Stalin hoffte man auf Besserung, auf Veränderung. Die Na-
tionalmannschaft fungierte in gewisser Weise als Kitt zwischen
dem Regime und dem Volk. Als Kocsis und Co. zur WM in die
Schweiz fuhren, erhoffte man sich Großes von diesem so furios
spielenden ungarischen Team. Der Rest der Geschichte ist hin-
länglich bekannt: Ungarn spielte großen Fußball, schlug Deutsch-
land mit 7:3, zog ins Finale in Bern ein. Dort feierte Deutschland
sein Wunder, Ungarn kehrte geschockt zurück.
(Fortsetzung auf Seite 14)
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