Sonntagsblatt 2/2016 | Page 27

Eine schwere Zeit
Ungarndeutsche in der „ neuen Heimat Deutschland”– die erste Zeit nach der Vertreibung

„ Tanyaabschied” mit Hindernissen

von Johann Wachtelschneider
Nach dem Milch-Brot-Frühstück machten Vater und ich uns bereit zum ersten Kirchgang in die katholische Heilig-Kreuz- Kirche nach Hüttlingen. Cousine Maria und deren Vater Anton hat ten sich angeschlossen. So machte sich unserer Quartett auf den gut halbstündigen Weg in unsere „ neue” Heimatpfarrei. Die bei den Väter und auch wir Kinder waren sehr gespannt, was wir heute an Neuem erleben würden.
Vor der Kirche standen viele Menschen in Gruppen zusammen und unterhielten sich lebhaft. Die Alteingesessenen sicher auch über uns „ Flüchtlinge“, denn durch sie hatte Hüttlingen in wenigen Wochen einen Bevölkerungszuwachs von über 700 Personen, die alle irgendwie untergebracht worden waren. So waren in wenigen Wochen fast 40 % der Bevölkerung Neuangekommene. Ne- ben Ostpreußen, Pommern, Schlesiern und den vielen Sude- tendeutschen mussten auch gut 200 Ungarndeutsche in der Ge- meinde aufgenommen werden. Sie stammten hauptsächlich aus Schorokschar / Soroksár, Perwall / Perbál, Jeni / Baranyajenô, Gedri / Gödre und Apadi / Bátaapáti. Vater und Anton gesellten sich zu einigen bekannten Scho- rokscharern und bald begann ein lebhaftes Erzählen über alle Bereiche der neuen Situation. Ich hatte unter den Kirchgängern meine geliebte Schuster-Oma entdeckt, die ich schon einige Zeit nicht mehr gesehen hatte. Wir beide konnten unsere Tränen nicht unterdrücken und freuten uns sehr über das Wiedersehen.
Die Glocken läuteten, und alle machten sich auf den Weg in die Kirche, die bald bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ich setzte mich natürlich neben meine Oma und versprach ihr, sehr brav zu sein. Das Hochamt zog sich hin, unterbrochen von einer endlosen Predigt des langjährigen Ortspfarrers Johannes A. Für einen Sechs jährigen, der dazu die Sprache nicht richtig verstand war die unendlich lange Messe schon eine sehr langweilige Angelegen- heit. Ich war sehr erleichtert, als dann das Schlusslied ertönte und danach alles nach draußen auf den Kirchplatz strömte. Hier standen dann die Vertriebenen in Gruppen und tauschten ihre neuesten Erfahrungen aus.
Von meinem Vater erfuhr ich später, dass Pfarrer Johannes sich sehr für uns Neuankömmlinge engagierte und in seinen Sonn- tagspredigten stets an die „ Altbürger” appellierte, doch gegenüber den „ Neubürgern” Toleranz und Nächstenliebe zu zeigen, was in manchen Fällen durchaus seine Berechtigung hatte. Der Pfarrer selbst war mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte im Pfarr- haus zwei Zimmer für eine Kriegerwitwe aus Perbál mit ihren vier Söhnen frei gemacht.
Pfarrer Johannes war ein sehr gütiger, aber in Glaubensfragen ein sehr konservativer und gestrenger Theologe und zugleich ein unerbittlicher „ Kämpfer” bei „ moralischen Fragen” der ganzen Gemeinde. Von den Ungarndeutschen Familien war er geradezu begeistert, ob ihres tiefen Glaubens und der gezeigten, tief verwurzelten Frömmigkeit.
In diese positive Grundstimmung mischte sich ein kleiner Wer- mutstropfen für den Seelsorger, denn mit den evangelischen Chris ten aus Bátaapáti wurde „ seine” Gemeinde nun auch, wie er sagte, von „ Falschgläubigen” durchmischt. Dies sollte sich aber bald bei ihm ändern, als er diese Menschen näher kennenlernte. Bei der Planung und beim Bau – nach einigen Jahren – der neuen evangelischen Kirche wurde er zum großen Förderer und Unter- stützer des Vorhabens. Für Mischehen konnte er sich aber leider nicht erwärmen und versuchte sogar noch in den frühen Sech- zigerjahren die Brautpaare von ihrem Vorhaben „ abzubringen”!!
Gegenüber meinem Vater äußerte er einmal Folgendes über die durchweg christlichen Vornamen der Vertrieben aus Ungarn: „ Ich freue mich sehr über die vielen Maria, Anna, Elisabeth, Theresia, Katharina, Josef, Johann( es), Michael, Martin, Franz, Georg, Stefan …; habe ich doch in den letzten Jahren viele Kinder gegen meinen Willen auf Adolf, Adolfine, Siegfried, Siegbert, Siegmund, Sieghard, Sieglinde, Siegrid usw. taufen müssen.”
Vater hatte sich nach dem Gottesdienst vor allem nach solchen Landsleuten umgesehen, die in den Industriebetrieben der Um- gebung Arbeit gefunden hatten, denn er hatte auf der „ Tanya” gegenüber meiner Mutter schon mehrfach geäußert, dass er mit der „ Knechtsarbeit” auf dem Hofe nicht zufrieden sei. Sobald wie möglich wollte er wieder auf „ eigenen Füßen” stehen und für sei- ne Familie eine andere Perspektive suchen. Dass dieses Vorhaben damals nicht so einfach war, sollte sich bald zeigen ….
Arbeit gab es damals eigentlich genügend, vor allem in den metallverarbeitenden Betrieben in Aalen und Wasseralfingen. Aber was für Arbeitsplätze für die ungelernten, aus den meist aus der Landwirtschaft stammenden Ungarndeutschen kamen in Frage? Da boten sich vor allem die Hilfsarbeiterstellen in den Warmbetrieben wie Gesenkschmieden, Walzwerken und Gieße- reien an – absolute „ Knochenarbeit” in Begleitung von Staub, Hitze, Lärm und Qualm. Unseren arbeitsfähigen Menschen zeigten sich keine Alternativen und sie packten an und belegten solche Arbeitsplätze in den Fabriken. Vater machte sich auch mit diesen Gedanken vertraut und wollte in den nächsten Wochen in verschiedenen Betrieben vorsprechen.
Zwei Handycaps erschwerten bei ihm die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz: das Fehlen einer Unterkunft( Wohnung) und seine Schwerbeschädigung – hatte er doch Ende 1944 im Kessel von Budapest durch einen Granatsplitter sein rechtes Auge verloren.
Anton, Maria, mein Vater und ich machten uns dann alsbald auf dem Weg nach „ Hause” um noch rechtzeitig zum Mittagessen auf den Höfen zu sein. Unterwegs unterhielten sich die Väter dann über die neuen Informationen. Bei Anton( Polsters) hatte man mittlerweile herausgefunden, dass die Schwiegereltern und Groß- eltern Marias mit dem vierten Transport aus Schorokschar in Back nang gelandet waren. Anton und Marias Mutter Elisabeth wollten deshalb über die „ Familienzusammenführung” nach Back nang ziehen. So schienen für uns langsam die Wochen auf der „ Tanya” vorüber zu gehen.
Meine Eltern waren nun auf dem Hof mit der Ernte beschäftigt und daneben drehte sich alles bei ihnen um die weitere Zukunftsgestaltung. Vater hatte Mutter davon überzeugt, dass nur ein Wechsel in die Industrie sinnvoll für die ganze Familie wäre, doch das Hauptproblem „ Wohnungsbeschaffung” zeigte sich als fast unlösbar … Von den ganzen Plänen meiner Eltern wussten unsere Hausherren und Arbeitgeber natürlich noch nichts! Was dann doch später zu sehr „ überraschenden Problemen” führte.
Eines Tages nahmen die Pläne konkrete Formen an! Vater nahm sich einen Tag Urlaub und machte sich am Morgen zu Fuß in das sieben Kilometer entfernte Wasseralfingen auf. Dort bei den „ Schwäbischen Hüttenwerken( SHW)”, wo schon viele Un- garn deutsche Arbeit gefunden hatten, sprach er vor und bekam auch einen Arbeitsplatz zugesichert. Für einen ungarndeutschen „ Földmûves” war seine neue Arbeitsstelle geradezu ein Quanten- sprung: sollte er doch in Zukunft in der „ Kunstgussabteilung” die gegossenen Plastiken und Reliefs aus Grauguss in ein verkaufsfä-
( Fortsetzung auf Seite 28)
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