Sonntagsblatt 1/2021 | Page 22

Das habe sich geändert , als » aus dem kleinen Jungen mit den niedlichen Kulleraugen ein erwachsener , irgendwie orientalisch aussehender Mann mit sprießendem dunklen Bart wurde «. Rafiq meinte , ein wachsendes Misstrauen ihm gegenüber zu spüren . Und auch er blickte mit den Jahren skeptischer auf Deutschlan .: Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen , Mölln oder Solingen ! Die Vorbehalte gegenüber Muslimen nach den Anschlägen vom 11 . September 2001 in New York ! Die umstrittenen Thesen des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin , der Missstände in Deutschland auch mit der Zuwanderung von Muslimen erklärte und damit eines der meistbeachteten Sachbücher schrieb ! Dann Pegida und die AfD !
All das , sagt Bobby Rafiq , habe dazu geführt , dass er sich nun manchmal tatsächlich wie ein Flüchtling vorkomme , weil ihm die Klischees , die zu dieser Rolle gehörten , zugeschrieben würden . » Immer wieder werde ich gefragt , ob ich auf Ehrenmorde stehe oder eine Schwester habe , die zwangsverheiratet sei . Immer mehr Leute trauen sich auch , mir ihre Verachtung zu zeigen , ob wohl sie mich nicht mal persönlich kennen . «
Er wisse , dass manche Leute gepackte Koffer zu Hause stehen hätten , sagt er , - falls sich die Stimmung in Deutschland weiter verschlechtere . Und dann , wohin ? Bobby Rafiq hebt die Schultern . » Das ist angesichts der Rechtspopulisten in Europa und den USA die nächste Sorge . «
Höre man Flüchtlingen in Deutschland zu , liege doch ein Gedanke ziemlich nahe , meint der Historiker Kossert . » Die Deutschen haben im Nationalsozialismus ihre Landsleute - jüdische Nachbarn , Freunde und Kollegen - verfolgt , vertrieben und ermordet . Nach dem Krieg haben sie Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufgenommen . Kaum ein Land hat so viele Erfahrungen mit den unmenschlichen und menschlichen Aspekten von Flucht . «
Die deutsche Geschichte sei so eng verwoben mit diesen Geschichten . Aber im Selbstverständnis vieler Deutscher spiele das keine große Rolle . » Dabei könnte genau das uns helfen , wenn wir heute darüber reden , wie wir Flüchtlinge aufnehmen . «
* Andreas Kossert : » Flucht . Eine Menschheitsgeschichte «. Siedler ; 432 Seiten ; 25 Euro .
Der Beitrag von Katja Thimm ist erstmalig im Nachrichtenmagazin „ Der Spiegel ” ( Ausgabe 43 / 2020 ) erschienen .
Vorwort
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Ansichten - Einsichten
Sonntagsblatt-Erstveröffentlichung
Erinnerungen eines Ungarndeutschen
Von Sanitätsrat Dr . Johannes Angeli
So manches kann der Mensch erleben , wenn er über 80 Jahre alt wird , lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten , dann umso mehr . Umso mehr auch , wenn er als Auslanddeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat ! Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt : „ Ach Papa , bei dir war wenigsten noch was los .” Da konnte ich nur antworten : „ Du weißt doch gar nicht , wie glücklich Du sein kannst , in

s dieser guten neuen Zeit leben zu können .” Keinesfalls handelt dieser Rückblick - um mit Goethe zu sprechen - um „ Dichtung und Wahrheit “, sondern um Wahrheiten aus den „ Erinnerungen eines Ungarndeutschen “.

Gern hätte ich auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet , aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann , hier den kleinen 10-jährigen Jungen mitgerissen , ob er wollte oder nicht . So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht , vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen .
Wie es mir erging , will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen , eines Jugendlichen , eines Familienvaters , und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die , die Ähnliches durchlebten , die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien .
Teil 3 : Die Vertreibung aus Isszimmer und Ungarn ( Teil 2 ist in Nr . 4 / 2020 erschienen )
Diejenigen Kräfte der Nationalungarn , die schon seit der Jahrhundertwende versucht htten , ihre Magyarisierungsträume zu verwirklichen , sahen nach dem Kriegsende endlich ihre große Chance gekommen . Es ist also kein Wunder , dass sie ihre Forderung nach der Aussiedlung der renitenten Ungarndeutschen lautstark schon zwei Monate vor dem Potsdamer Abkommen international in den Medien artikulierten und schriftlich formulierten . Diese Fakten werden heute auch von keinen unabhängigen Historikern mehr bestritten , nur versucht man die Schuldfrage von der unfreien , unter sowjetischem Druck stehenden ungarischen Regierung auf die Sowjetunion abzuwälzen ( siehe Ministerpräsident Orbáns Rede am 19 . Januar 2016 !), obwohl damals noch eine freigewählte ungarische Regierung bestimmte .
Für die Nationalisten war es nämlich eine „ nie wiederkehrende Chance , die Schwaben loszuwerden ” ( Minister für Wiederaufbau József Antall sen .), für die Anhänger der Bodenreform ( Kleinbauernpartei ) die Gelegenheit zu Grund und Boden zu kommen , für die Umsiedlungsbeauftragten die willkommene Möglichkeit zur Unterbringen der ungarischen Flüchtlinge u . a . aus der Slowakei und nicht zuletzt für den einfachen Bürger - ja sogar Nachbarn - die Chance sich am Hab und Gut der Vertriebenen zu bereichern . Natürlich wollte man besonders Ungarndeutsche treffen , die sich am hartnäckigsten der Assimilation schon vor dem Krieg widersetzt hatten und die sich , um diesem Druck der staatlichen Organe ein Gegengewicht entgegensetzen zu können , untereinander verbündet hatten ( Volksbund , siehe Teil 2 !).
Es muss doch nicht nur von uns heute , sondern von allen Ungarndeutschen schon damals als eine Diskriminierung ihres Seins in Ungarn empfunden worden sein , wenn kein ordentlicher , brauchbarer deutscher Schulunterricht ( siehe Teil 1 !) mehr stattfand , wenn ihre traditionellen Vornamen in Kirchenbüchern und Urkunden nur ins Ungarisch übersetzt eingetragen wurden und wenn sie ihre Familiennamen gar magyarisieren oder deutschunkenntlich ( siehe von „ Angele “ zu „ Angeli “!) machen mussten , um einen gesellschaftlichen Aufstieg außerhalb ihrer Stammesdörfer realisieren zu können .
Weitere historische Zusammenhänge und Hintergründe sind ja inzwischen von vielen Historikern durch deren Bücher und nicht zuletzt durch die Medien aller Art ( auch durch das „ Sonntagsblatt ”) verdeutlicht worden . Ebenso kann dort die Gesamtzahl der Vertriebenen nach West- und Ostdeutschland und der verbliebenen Ungarndeutschen eingesehen werden .
Als unmittelbarer Zeitzeuge ist es vielmehr meine Aufgabe , über die Vertreibung der Deutschen aus Isszimmer einen nahen Erlebnisbericht zu geben . Erste Gerüchte über Vertreibungen von Ungarndeutschen aus verschiedenen Dörfern gab es ja schon
SoNNTAGSBLATT