Sonntagsblatt 1/2021 | Page 21

ern zu bezahlen und Sprache und Spielregeln zu beherrschen . Mindestens so wichtig für sie sei die Suche nach ihrer Identität : » Was einem bleibt , wenn man aus allen Lebenszusammenhängen herausgerissen wurde , müssen Flüchtlinge in der Regel untereinander besprechen , weil wir Sesshaften uns nicht dafür interessieren . Auch das trägt dazu bei , dass sich Exilgemeinschaften abschotten und ihre eigenen Regeln verfestigen . «
Und noch etwas sei wichtig , findet er . » Historisch betrachtet haben Flüchtlinge sesshafte Gesellschaften bereichert , sobald man ihnen die Möglichkeit dazu eingeräumt hat . Betrachtet man sie als hilfsbedürftige Opfer und lästige Bittsteller , behindert man diese Entwicklung . «
Ein Sonntagnachmittag Anfang Oktober : Serin Taher kommt gerade zurück in die Wohnung , in der sie im Ruhrgebiet mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern lebt . Sie hat mit einer Freundin für die anstehenden Prüfungen gelernt . Geht alles gut , wird die 27-jährige Syrerin bald Kauffrau für Büromanagement sein . Sorgfältig stapelt sie Lehrbücher und zwei dicht beschriftete Blöcke aufeinander . Ihr Arbeitgeber schätze ihre Sprachkenntnisse , erzählt sie dann . Taher spricht Kurdisch , Türkisch , Arabisch , Englisch und Deutsch .
Serin Taher scheint zu denen zu gehören , die bereits jenes Interesse erfahren , von dem Kossert spricht . Und sie hat sich vorgenommen , Deutschland als größte ihrer bisherigen Chancen zu begreifen .
Ja , sie höre von anderen , die unfreundlich behandelt würden , sagt sie . Aber sie selbst ? Nur gute Erfahrungen !
Im Sommer 2015 kam sie mit der Mutter und vier Geschwistern aus Aleppo , ohne den Vater oder den Schutz anderer männlicher Verwandter . Die Eckdaten ihrer Flucht ähneln denen vieler Berichte aus dieser Zeit : Bomben , Hunger , Mittelmeerroute , Schleuser , illegaler Grenzübertritt , zwei Tage und Nächte in einem ungarischen Gefängnis , Ankunft in Deutschland , Wohnheim , Sprachkurs …
Sie vermisse ihr Land , sagt sie , aber wenn ihr morgens beim Aufwachen bewusst werde , dass sie dort nicht mehr leben müsse , sei sie jedes Mal froh . » Herzlich willkommen «, hätten die beiden Polizisten gesagt , die sie in Passau in Empfang nahmen . » Und genauso fühle ich mich auch : total willkommen . « Sie erzählt von ihren Praktika in einem Friseursalon und in einem Kindergarten , von den Menschen , die ihr halfen , diese Wohnung zu suchen , helle Räume , Blick ins Grüne » und sogar ein Balkon «.
Mitte kommenden Jahres steht die nächste Entscheidung über ihren Aufenthaltsstatus an : ob sie bleiben darf . Sie versucht , den Gedanken an diesen Termin so weit wie möglich zu verdrängen - ebenso wie die Erinnerungen an die Toten in Syrien . » Sonst kann ich mich nicht auf die Prüfungen konzentrieren . Ich hoffe einfach , dass ich auch weiter allen zeigen kann , dass ich gut für dieses Land bin . «
Herbert Stauber kennt einen solchen Druck nur vom Hörensagen . Seine Eltern waren 1984 während einer vermeintlichen Urlaubsreise aus Rumänien geflohen . Der Vater hat die ungewöhnliche Route in einem Heft festgehalten : Polen , DDR , dann über die Grenze der Tschechoslowakei nach Österreich und weiter in die Bonner Republik .
Hätte jemand sie bei ihren Vorbereitungen erwischt , hätte jemand die westdeutschen Landkarten und gefälschten Pässe entdeckt , wären sie für viele Jahre im Gefängnis weggesperrt worden . In der Bundesrepublik aber galten sie als Spätaussiedler : Angehörige der Banater Schwaben , einer deutschsprachigen Minderheit in Rumänien , ein Spezialfall deutscher Flüchtlingspolitik .
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Stauber ist ein kräftiger Mann mit Humor , er rollt das R , seine Herkunft ist ihm noch anzuhören . » Meine Schwester und ich blieben erst einmal bei den Großeltern und einem Onkel «, erzählt er . » Irgendwann standen die Männer von der Securitate vor der Tür und gaben uns ein Telegramm , in dem unsere Eltern uns ihre erfolgreiche Flucht mitteilten .« Der rumänische Geheimdienst zensierte die Briefe an die Kinder und konfiszierte Staubers Elternhaus . » Nach einem Jahr kam eine Nonne vom Deutschen Roten Kreuz , um uns Geschwister abzuholen . Wir gehörten zum Glück zu denen , die Ceauşescus Regime gegen Devisen an die Bonner Regierung verkaufte . «
Wie Gerhard Schulz und Arieta Ugljanin war Herbert Stauber zehn Jahre alt , als er seine Heimat verließ . Auch er wollte nicht fortgehen . Er fühlte sich entwurzelt und trotz seiner Sonderrolle traf auch ihn die Skepsis der Sesshaften , wie Andreas Kossert sie beschreibt .
» Ich war super glücklich in Rumänien «, sagt er . » Ich wusste , dass in Deutschland Bananen , Schokolade und alles auf mich warten würden , was ein Kind sich wünscht . Aber die Freiheit , die meine Eltern gelockt hatte , war mir damals egal . Für mich hat sich Deutschland erst einmal gnadenlos angefühlt . « Bei den Mitschülern kam der neue Sonderling mit der billigen Kleidung nicht an und die Lehrer schimpften mit dem Jungen , der seine Unsicherheit mit frechen Sprüchen überspielte .
Viermal musste er die Schule wechseln , bevor er schließlich auf Umwegen das Abitur schaffte . Der Leistungssport hielt den Jungen in der Spur , bis heute engagiert sich Herbert Stauber im Handballverein . Als Pädagoge leitet er seit elf Jahren das städtische » SOS Kinderdorf « in Düsseldorf und arbeitet dort regelmäßig mit jungen Flüchtlingen .
» Hätte man mich damals aufgegeben , so wie es heute viele Flüchtlinge erleben , wäre ich in der kriminellen Szene gelandet «, urteilt er . » Am Ende hat mich gerettet , dass meine Eltern an mich glaubten . Aber das System hat mich eben auch nie fallen gelassen . Da gehörte ich zu den Gewinnern des Kalten Kriegs . «
Solange die Welt in zwei ideologische Blöcke aufgeteilt war , ließ sich die Frage , wer ein Flüchtling ist , in Deutschland leichter beantworten als heute in den Lagern an Europas Außengrenzen . Wer einem kommunistischen Regime entkommen war , galt erst einmal als glaubwürdig verfolgt und schutzbedürftig .
Auch auf Bobby Rafiq und seine Familie traf das so zu . 1980 floh die Mutter mit ihm und dem älteren Bruder aus Kabul nach West-Berlin - in einem Linienflugzeug über Frankfurt und mit zwei Koffern - es wirkte auf den Vierjährigen wie eine Reise . Der Vater , ein erfolgreicher Kaufmann , der nachkommen würde , sobald er die Zukunft seiner Geschäfte geregelt hatte , winkte am Flughafen mit einem Taschentuch . Drei Monate zuvor war die sowjetische Armee in Afghanistan einmarschiert . » In den Augen der Sowjets waren wir eine kapitalistische Familie «, sagt Bobby Rafiq . » Meinem Vater drohte das Schicksal eines politischen Gefangenen . «
Bobby Rafiq erzählt die Geschichte seiner Familie auf der Terrasse eines Kreuzberger Cafés . Er lebt nach wie vor in Berlin , hat dort Politikwissenschaft und Germanistik studiert und arbeitet für eine Fernsehproduktionsfirma .
Die ersten Jahre in der damals noch geteilten Stadt hat er , nach ersten schwierigen Monaten , als vergleichsweise unbeschwert in Erinnerung – obwohl die Familie sich anfangs ein kleines Zimmer im Studentenwohnheim teilen musste . Die Gespräche der Erwachsenen drehten sich um Verlust und die Mutter musste Geld als Schneiderin verdienen . Dennoch , sagt Bobby Rafiq , habe er sich noch in der Grundschule nie als Flüchtling gefühlt .
( Fortsetzung auf Seite 22 )
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