Sonntagsblatt 1/2021 | Page 20

Das sei bislang noch für alle Ankunftsgesellschaften schwer auszuhalten gewesen , urteilt Kossert , und deshalb versuchten sie traditionell , sich Flüchtlinge vom Hals zu halten .
Als der amerikanische Präsident Franklin D . Roosevelt im Juli 1938 die Vertreter von 32 Staaten und Dutzenden Hilfsorganisationen ins französische Evian einlud , damit sie darüber berieten , wie mit der wachsenden Zahl jüdischer Flüchtlinge umzugehen sei , erklärten sich ausschließlich die Gesandten der Dominikanischen Republik bereit , weitere Juden aufzunehmen . Als die griechische Minderheit Anfang der 1920er-Jahre aus dem Gebiet der heutigen Türkei vertrieben wurde , schimpften ihre Landsleute sie türkische Bastarde .
» Die Empathie gegenüber Flüchtlingen war noch nie von Dauer , die Bereitschaft , sie gesellschaftlich teilhaben zu lassen , ist gering «, so fasst Kossert seinen Befund zusammen . Die Bilanz widerspricht dem Menschenbild einer freiheitlichen Demokratie wie der Bundesrepublik . Der SPIEGEL wollte wissen , was sie für den Alltag bedeuten kann , und hat Gerhard Schulz , Serin Taher , Bobby Rafiq , Herbert Stauber und Arieta Ugljanin gebeten , von ihren Erfahrungen mit Deutschland zu erzählen .
Besuch im niedersächsischen Stade : Gerhard Schulz trägt Waidmannsgrün , Pullover , Hose , - er war einmal begeisterter Jäger . Unverkennbar ist auch sein Tonfall : norddeutsch durch und durch .
» Meine ursprüngliche Mundart habe ich mir abtrainiert «, sagt er . » Ich wollte hier nicht als zugelaufener Habenichts gelten . Jetzt kommt mir das manchmal wie Verrat vor . « Und noch etwas setzt ihm in letzter Zeit vermehrt zu . Gerhard Schulz hat nach dem Tod seiner Frau das Haus verkauft , in dem beide mehr als 60 Jahre lang zusammen wohnten . Es war ihm mit einem Mal zu groß , zu verlassen , zu traurig vorgekommen .
» Ich fühle mich sauwohl hier «, sagt der pensionierte Klempnermeister und führt durch die neue , ebenerdige Mietswohnung . Die Sessel , die Couch , die Geweihe - alles erinnert an die alte Bleibe . Doch dass er nun kein eigenes kleines Grundstück mehr besitzt , bedrückt Gerhard Schulz mehr , als er erwartet hatte . » Ich verstehe erst jetzt , dass dieses Haus für mich wie eine Garantie war , nicht noch einmal wie ein Eindringling dastehen zu müssen . «
Als er und seine Mutter im Juni 1945 aus jenem Teil der Mark Brandenburg vertrieben worden waren , der heute zu Polen gehört , hatten sie monatelang bei Verwandten und Bekannten nach einem Unterschlupf gesucht . Die Odyssee endete 1946 auf einem Hof in der Umgebung von Stade : Kost und Logis gegen Arbeit . Dort habe er mit seinen elf Jahren zum ersten Mal das Gefühl gehabt , nichts wert zu sein , sagt Gerhard Schulz .
» Gleich bei der ersten Mahlzeit setzte sich die Bäuerin allein an den großen Küchentisch . Uns wies sie einen Platz am Kasten zu , in dem der Torf für den Brennofen gelagert wurde . So haben die Dame des Hauses und wir dann immer gegessen .«
Arieta Ugljanin fühlte sich ähnlich verloren , als sie nach Deutschland kam , 46 Jahre später , ebenfalls mit zehn . Es war die Zeit , in der sich die Angriffe auf Asylbewerberheime mehrten . Zwischen 1991 und 1995 registrierte der Verfassungsschutz 1400 fremdenfeindliche Brandanschläge .
» In unserem Wohnheim in Essen schwelte in manchen Nächten ein Feuer auf dem Flur , später standen Wachleute dort , um Brandstifter abzuhalten «, erzählt sie . » Ich war an jedem Morgen froh , wenn es wieder hell wurde . « Arieta Ugljanin erinnert sich noch an ihr kindliches Erstaunen . » Es kam mir vor , als sähen die Deutschen in uns eine Bedrohung . Dabei waren wir doch gar nicht gekommen , um ihnen zu schaden . «
20
Ugljanin bietet Tee an - eine Frau mit braunem Zopf , dezent geschminkt . Die Wände im Raum sind bunt mit Tiermotiven bemalt , in einer Ecke liegt Spielzeug . Sie , die als Kind aus dem damals jugoslawischen Kosovo floh , leitet inzwischen eine eigene Kindertagesstätte . In einem bürgerlichen Viertel in Essen beschäftigt sie vier Mitarbeiterinnen . Drei Kitagruppen auf großzügigen 210 Quadratmetern Altbau . Ihre Mutter führt eine Gaststätte in der Nähe , der Vater ist verstorben .
» Er war so froh , als er endlich hier arbeiten durfte , und dann blieben ihm nur noch vier Jahre «, sagt die Tochter .
Die Arbeitserlaubnis für alle , eine Wohnung und schließlich , nach 14 Jahren , das dauerhafte Bleiberecht für die ganze Familie : Arieta Ugljanin hat ihren Weg in die deutsche Gesellschaft als mühevoll und erschöpfend in Erinnerung . » Ich habe irgendwann begriffen , dass Menschen wie wir herausragend sein müssen , ohne aufzufallen «, sagt sie . Bei jeder neuen Aufgabe habe sie sich dreimal kontrolliert , um keine Fehler zu machen .
Die Zehnjährige lernte innerhalb von sechs Monaten Deutsch , um nicht in die Grundschule zurückgestuft zu werden ; sie wurde Auszubildende in einer Zahnarztpraxis , obwohl sie lieber studiert hätte . Doch solange in der Lehre alles problemlos lief , würde der Aufenthalt der ganzen Familie geduldet , so hoffte sie . » Wir hatten bei jedem Termin im Sozialamt und bei jeder Bleibeverhandlung Angst . Es wurde mit den Jahren immer deutlicher , dass es im Kosovo keine Zukunft für uns geben würde . In meiner Heimatstadt leben Albaner und Serben bis heute nicht friedlich zusammen . «
Was sie sich gewünscht hätte ? » Dass uns kaum einer gefragt hat , welches Leben wir eigentlich zurückgelassen haben , fand ich immer traurig . Dass wir ein großes Haus besaßen , dass mein Vater eine eigene Firma hatte , dass wir glückliche Menschen waren , bis Soldaten uns bedrohten , interessierte höchstens mal ehrenamtliche Helfer . Für die meisten waren wir einfach nur die Flüchtlinge . «
Sich den Lebensgeschichten vertriebener Fremder zu entziehen , sei eine traditionell verbreitete Strategie , sagt Andreas Kossert . » Man unterdrückt dadurch das eigene Mitgefühl , das einem möglicherweise selbst Verzicht und andere Unbequemlichkeiten abverlangen würde . Solange man einen Menschen nur als Teil einer homogenen Masse ansieht , berührt einen dessen Schicksal nicht unmittelbar . « Allerdings , sagt der Historiker , können wir uns diese Strategie längst nicht mehr leisten .
Kossert sagt , er beobachte » eine neue Form von Politik , die auf das Recht des Stärkeren setzt und Flüchtlinge als Kollateralschaden von Konflikten in Kauf nimmt «. Der Konsens , auf den sich die Uno bei ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg verständigt habe , löse sich weiter auf . » Dass man so lange wie möglich nach diplomatischen Lösungen sucht , wird zunehmend zum Lippenbekenntnis . Und all die guten Ideen , wie man Fluchtursachen global bekämpfen kann , haben es schwer .«
Man müsse sich darauf einstellen , dass die Zahl der Flüchtlinge weltweit weiter steige – und auch nach Europa mehr Menschen kommen werden . » Sie aufzunehmen wird umso besser gelingen , je mehr wir über diese Heimatlosen wissen «, sagt Kossert . » Jenseits aller politischer Fragen , die es für den Umgang mit Flüchtlingen zu klären gilt , brauchen wir eine andere Haltung : Wir müssen besser zuhören . Wir alle ! Es wird nicht ausreichen , diesen Job auf Sozialpädagogen , Sprachlehrer und andere Integrationshelfer abzuwälzen . «
Integration , sagt der Historiker , bedeute eben nicht nur , Neuankömmlinge möglichst schnell in die Lage zu versetzen , Steu-
SoNNTAGSBLATT