Sonntagsblatt 1/2021 | Page 19

tet , so komme man statt auf 12 ( was der Hälfte der Gesamtstundenzahl entspräche ) auf 7 bis 9 Stunden .
Die neue Regionalisierung habe der Sache auch nicht geholfen – 2015 wurden die östlichen Departements zu der Großregion Grand Est zusammengefasst . Das habe zur Folge gehabt , dass die Leiter der Schulverwaltung im Elsass nicht mehr unabhängig sind , sondern der Verwaltung im frankophonen Nancy untergeordnet - in einem zentralistischen System , wo ohnehin „ alles wie der Regen runterprasselt ”. In Lothringen sei die Lage noch schwieriger : Es gebe zwar zweisprachige Klassen , aber die Schulverwaltung erkenne Hochdeutsch nicht als Regionalsprache an .
Es stellt sich dabei die Frage nach dem Erfolg des bilingualen Unterrichts : Schaffner gerät in Erklärungsnot , denn Umfragen existierten hierzu kaum . Nach seinem Eindruck führe der bilinguale Unterricht bei vielen zu „ einem besseren Beherrschen einer Fremdsprache , die hier eine Regionalsprache darstellt , bei etwa der Hälfte sogar zu mehr ( 50 %). Wir dürfen dabei eins nicht vergessen : Deutschsprachige Familien seien auch hier eine Ausnahme , der Dialekt , vielfach als Küchensprache ohne moderne Funktion verhutzelt , und spiele keine Vermittlungsfunktion mehr . Dennoch gebe es durchaus Familien , wo Dialekt oder Hochdeutsch bewusst gepflegt werde . Deutsch oder Dialekt werde dabei mehr im Elsass und bei den Evangelischen gesprochen , die noch Gottesdienste hätten , die zu drei Viertel auf Hochdeutsch stattfänden . Bei den Katholiken hingegen dominiere das Französische – eine für uns wohlbekannte Erfahrung . Auf einen Umstand weist Schaffner noch hin : Im Elsass handele es sich um eine gemischte Bevölkerung , die Altelsässer seien langsam in der Minderheit , so dass man die anderen für die Zweisprachigkeit gewinnen müsse . Hier kann Franz Schaffner durchaus von Erfolgen berichten : So besuchten den „ paritätischen ” Unterricht sogar Kinder , deren Großeltern aus Algerien , Polen oder Italien gekommen sind . Und noch etwas : Man mache oft die Erfahrung , dass die Eltern dieser Kinder mehr für den zweisprachigen Unterricht seien als „ Stammelsässer ”. So könnte nach Schaffners Eindruck der Deutschunterricht als ein Mittel dienen , die verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenzubringen . Die Kinder mit Migrationshintergrund könnten dann verstehen , dass die Großelternsprache einen Wert hat .
Auch Schaffner bestätigt die Aussagen der Käseverkäuferin aus Kolmar , dass fast jeder sich auf Deutsch verständigen könne . Dies liegt nach Ansicht des 77-Jährigen mitunter an dem Pendlerverkehr nach Deutschland und vor allem in die Schweiz , wo man mehr Dialekt spreche , was man aber schnell lerne . Dennoch habe die Zahl der Pendler abgenommen , was auch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen . Schaffner führt dies darauf zurück , dass die Eltern Dialekt sprächen und die vielen Jugendlichen von den nicht zweisprachigen Schul-Zügen Probleme bei der Einstellung bekämen ; denn : Deutsche und Schweizer Firmen wollen Deutschsprachige , von der Konkurrenz aus Osteuropa ganz zu schweigen . Das Pendeln scheint dabei aber weitgehend einseitig zu sein : Schweizer kauften Bauernhöfe im Oberelsass , schmunzelt der Verleger .
SoNNTAGSBLATT
» Wie ein Eindringling «
„ Ein Beitrag von Katja Thimm - erstmalig erschienen am 17 . 10 . 2020 im deutschen Nachrichtenmagazin „ Der Spiegel ” ( Nr . 43 / 2020 ); Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Spiegel-Verlages Hamburg
„ Integration ? Flüchtlinge gelten als Bedrohung – überall und immer schon “, sagt der Historiker Andreas Kossert . Wie sieht das in Deutschland aus ? Fünf Frauen und Männer berichten von ihrem
Neuanfang : Die jüngste kam 2015 aus Syrien , der älteste vor 75 Jahren aus dem heutigen Polen .
Gerhard Schulz hat ein Foto retten können . Auf dem abgegriffenen Papier in Schwarz-Weiß ist sein Vater neben einem Fahrrad zu sehen . Serin Taher hat einen USB-Stick mit Kinderbildern zurückbehalten . Bobby Rafiq erinnert ein afghanischer Kettenanhänger an das Land , aus dem er kam , und in Herbert Staubers Familie übernimmt ein Beistelltisch diese Rolle .
Arieta Ugljanin hat nur noch Erinnerungen .
Einmal im Monat habe der Postbote im Kosovo einen Briefumschlag für die Großmutter gebracht , erzählt sie . » Mit ihrer Rente . Und meine Oma hat mir dann jedes Mal einen Schein zugesteckt .«
Fünf Geschichten aus acht Jahrzehnten in Deutschland . Gerhard Schulz , Serin Taher , Bobby Rafiq , Herbert Stauber und Arieta Ugljanin sind vertrieben worden oder geflüchtet – fünf von mehr als zwanzig Millionen Menschen , die hier seit dem Zweiten Weltkrieg Schutz vor Diktaturen , Bomben , religiösen Fanatikern oder politischer Verfolgung gesucht haben . Fast 80 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht . Die Zahl war nie höher .
Sieht Gerhard Schulz , 86 Jahre alt , die Bilder dieser Männer , Frauen und Kinder heute im Fernsehen , denkt er an die Trümmer mit den Körperteilen , an denen er im Sommer 1945 vorbeilief , weg von seinem Heimatdorf , das fortan polnisch war . Die 38-jährige Arieta Ugljanin erinnert sich an eine Brücke , die hinter ihr gesprengt wurde , als sie mit ihrer Familie das kriegsgeschundene Jugoslawien verließ . Der 45-jährige Herbert Stauber hat seine Kindheit unter dem Regime von Nicolae Ceauşescu in Rumänien vor Augen , die 27-jährige Serin Taher holen Albträume zurück nach Syrien , und der 44-jährige Bobby Rafiq fragt sich , wie lange Deutschland noch ein sicherer Ort sein wird .
» Der radikale Bruch , den eine Flucht bedeutet , wirkt lebenslang fort «, sagt der Historiker Andreas Kossert . » So unterschiedlich die Einzelschicksale sind : Alle Flüchtlinge müssen mit derselben Erfahrung weiterleben . Sie werden gegen ihren Willen an einem fremden Ort zu einem Neuanfang gezwungen und gelten dort als Störenfriede . «
Auch in Kosserts Familie gab es diese Erfahrung . Bis zu seinem Tod habe der Großvater Masuren als sein Zuhause angesehen , nach fast 60 Jahren in Niedersachsen . Das Bild eines waldumsäumten Sees , typisch für Ostpreußen , hing bei den Großeltern im Wohnzimmer und hat mittlerweile einen Platz über Kosserts Schreibtisch .
Kossert , Historiker an der Bundesstiftung Flucht , Vertreibung , Versöhnung in Berlin , ist einem breiteren Publikum bekannt , seitdem er einen hartnäckigen Gründungsmythos der Bonner Republik entkräftete : Die rund 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und aus Ostund Südosteuropa seien nach dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls willkommen gewesen – und zudem nicht so erfolgreich integriert worden wie allgemein behauptet . Nun nimmt der 50-Jährige in einem neuen Buch * auch andere Länder und Generationen in den Blick und erzählt Flucht als immer wiederkehrende Geschichte der Menschheit .
Ob der biblische Moses , Schlesier in Deutschland , vietnamesische Boatpeople oder die Rohingya in Bangladesch : Flüchtlinge werden seit je von sesshaften Gesellschaften als Unruhestifter wahrgenommen , so lässt sich Kosserts Kernthese zusammenfassen . Sie lösen Verteilungskämpfe aus und erinnern in ihrer Unbehaustheit daran , wie schnell auch das eigene Leben durch wahnwitzige Zeitläufe gesprengt werden könnte .
( Fortsetzung auf Seite 20 )
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