Sonntagsblatt 1/2021 | Page 13

deine Schlussfolgerungen differenzieren würde ? Wenn ja , inwiefern ?
Vertriebene Frauen aus Ratzmetschke / Erdősmecske
Du hast vorhin erwähnt , dass , als du mit der Erforschung des Problemkreises „ Malenkij Robot ” begonnen hast , diese noch ein unbestellter Acker war . Wenn das Thema an politischer Brisanz gewonnen haben soll , bedeutet das ja , dass sehr viele anfingen , sich mit diesem Themenbereich zu beschäftigen . Was glaubst du , welche Fragen konnte man im vergangenen Jahrzehnt zur Zufriedenheit aller klären ?
Ich denke , das Thema ist kein „ weißer Fleck ” mehr . In den letzten Jahren passierte so viel in diesem Themenbereich ( Publikation von Büchern , Veranstaltungen , Errichtung von Denkmälern , Filmproduktion usw .), dass ich es mir nicht vorstellen kann , dass ein Mitglied der ungarischen Gesellschaft nicht davon erfahren hat . Es ist eine andere Frage , was man gehört hat , denn selbst in solch grundsätzlichen Fragen werden - anstelle Antworten zu liefern - Zahlenschlachten geschlagen wie bei der Frage , wie viele ungarische Staatsbürger in die Sowjetunion verschleppt wurden . Daher muss man noch an der Einordnung des Themas arbeiten . Was ich aber für erfreulich halte , ist die Tatsache , dass sich in der Tat sehr viele mit dem Thema beschäftigen , so dass gesichert ist , dass es nach dem Ableben der Erlebnisgeneration nicht von der Tagesordnung verschwindet oder eben auch aus dem kollektiven Gedächtnis . Das ist bei einem Ereignis , das 45 Jahre lang totgeschwiegen wurde , ein Riesenfortschritt .
Herbst 2020 ist deine Doktorarbeit mit dem Titel „ Csak egy csepp német vér ” – A német származású civilek Szovjetunióba deportálása Magyarországról 1944 / 1945 ” auch in Buchform erschienen . Welche Quellen aus ungarischen und ausländischen Archiven hast du verwendet ?
Bei den ausländischen Sammlungen habe ich die Schriftquellen des deutschen Bundesarchivs - allen voran die Ostdokumentation des Lastenausgleichsarchivs Bayreuth - berücksichtigt . Über die Materialien aus den Archiven hinaus habe ich vornehmlich solche - in Ungarn nicht verfügbare -Publikationen aufgearbeitet , die die vertriebenen Deutschen von 1946 bis heute herausgebracht haben . Hierzulande wäre eine vollständige Auflistung unlesbar lang , deswegen beschränke ich mich nur aufs Wesentliche . Um die Ereignisse aufzudecken habe ich in elf Komitatsarchiven die lokalen Verwaltungsakten ( auf Komitats- , Bezirks- und Gemeindeebene ) zwischen 1944 und vornehmlich 1949 , als die letzte Gruppe der Verschleppten heimkehrte , durchforstet . Darüber hinaus habe ich zahlreiche kirchliche Archive aufgesucht und dort Verwaltungsakten auch aus der Zwischenkriegszeit studiert , weil sie viele interessante Details über lokale interethnische Konflikte lieferten .
Du hast eine beachtliche Menge an Unterlagen gesichtet , was sich auch dadurch zeigt , dass das Archivquellenverzeichnis acht Seiten ausmacht . Ich merke aber ( und du hast es auch nicht erwähnt ), dass die russischen Archive fehlen . Das mindert natürlich nicht den Wert deiner Arbeit , aber ich bin dennoch neugierig , ob eine dortige Forschungsarbeit
SoNNTAGSBLATT
Es stimmt , von den russischen Quellen konnte ich nur die verwerten , die ausländische Forscher bereits veröffentlicht haben . Ich hatte es anders vor , aber als ich vor einigen Jahren Kontakt mit russischen Archiven aufgenommen habe , erhielt ich höfliche Absagen . Ob es dem Thema gegolten hat , kann ich nicht einschätzen . Seitdem bin ich mit einem Moskauer Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts bekannt geworden , der sagt , dass es sich lohnen würde , nach Russland zu fahren , und wenn es über sie ( Anm .: über das Deutsche Historische Institut ) laufen würde , dann könnte der Empfang anders sein . Das findet sich auch in meinen Zukunftsplänen .
Um deine Frage zu beantworten : Es würde sie nicht differenzieren ! Zum einen habe ich die Fragestellung so formuliert , dass ich auf russische Quellen nicht angewiesen war – ich habe lediglich die Zeit der Deportation und die Geschehnisse in Ungarn untersucht . Über die Zeit der Gefangenschaft und den Lageralltag wollte ich nicht schreiben , dafür stehen die Berichte der Überlebenden . Was interessant wäre , wären die Berichte der an der Aktion beteiligten Sowjetsoldaten , sofern es welche gibt . In Ermangelung dessen können wir nur Mutmaßungen hinsichtlich deren Gesichtspunkte oder Beweggründe anstellen . Aber eins ist sicher , in der ungarischen Forschergemeinde bin ich die Einzige , die sich für die sowjetische Perspektive interessiert hat ; ich wollte sie auch verstehen und die charakteristische Schwarz-Weiß-Malerei überwinden .
In der Zusammenfassung des Buches schreibst du , dass du durchaus Fantasie darin sehen würdest , die zur Verfügung stehenden – nach deinem Wortgebrauch - „ Egodokumente ” ( Briefe , Tagebücher , Memoiren und Interviews ) systematisch , wissenschaftlich aufzuarbeiten . Würde dazu auch die Untersuchung der Berichte der Sowjetsoldaten passen oder würdest du diese anhand eines anderen Konzepts aufarbeiten , solltest du solche Quellen finden ?
Die Berichte der Sowjetsoldaten würde ich nicht unter einen Hut nehmen mit den Berichten der Überlebenden , denn diese sind gewissermaßen offizielle Dokumente , die für vorgesetzte militärisch-politische Stellen entstanden sind und deren Erwartungen entsprechen mussten . Daher halte ich es für unwahrscheinlich , dass sie darin von dem Chaos und den Unwägbarkeiten berichtet hätten , die die Umsetzung des Deportationsbefehls nach sich zog . Das Zusammentragen und Aufarbeiten der „ Egodokumente ” hielte ich deswegen für wichtig , weil ich beim Thema die methodisch korrekte Verwendung solcher Quellen ( Anm .: offizieller Dokumente ) vermisse . Anstelle dessen illustrieren manche Autoren mit Interviewfloskeln aus hier und da ihre eigenen Thesen und ziehen allgemeingültige ( oder falsche ) Schlussfolgerungen in Bezug auf die Deportation - unreflektiert , ob diese auch von anderen Quellen oder sogar anderen Berichten von Zeitzeugen bestätigt werden .
Ich befürchte , dass dies in der Regel auf solche zutrifft , die als Geschichtsstudenten keine Methodenseminare belegen konnten . Hier gelangen wir wieder zu dem Punkt , was du bezüglich der fachlichen Verantwortung eines Historikers gesagt hast : Er müsse auch deswegen seine Forschungsergebnisse der Gesellschaft vorstellen , um ein Gleichgewicht zu schaffen zu den Schriftstücken , die ein ausreichendes Hintergrundwissen vermissen lassen . Das Sammeln und Aufarbeiten von „ Egodokumenten ” hast du als mögliche Forschungsrichtung beschrieben . Hast du bereits mit der Arbeit begonnen ?
( Fortsetzung auf Seite 14 )
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