Sonntagsblatt 1/2020 | Page 16

Würdenträger höchsten Ranges eine ungarische Unabhängig- keitspolitik – eine vollkommen isolierte staatliche Existenz von Österreich – ohne Widerspruch verfolgen? Ob er in seiner Rolle in einen Widerspruch mit sich selbst geraten ist? Seine tiefgrei- fende katholische Schulung hatte zu dieser Ambivalenz keine massive Grundlage geschaffen. Prohászka wurde auf Initiative des Erzbischofs von Gran/Esztergom, János Simor, zum Stu- dium nach Rom gesandt. Dort konnte er im Collegium Germani- cum et Hungaricum und an der Päpstlichen Universität Gregoria seine Kenntnisse und seine Verpflichtung als Christ und katholi- scher Seelsorger vertiefen. Später bekam er Pfründen als Semi- narist sowie Pfarreien in Esztergom und Budapest. Es gibt kein Zeichen dafür, dass er irgendwelche durchschlagenden Anlässe zu einer wenn auch kirchenpolitischen Karriere gehabt hätte. Landesweit bekannt geworden ist er durch geistliche Übungen für Männer und nichts anderes. 1904 wurde er Professor für Dog- matik an der Budapester Universität: Aufträge, hinter denen kei- ne direkten politischen Aspirationen verbergen. Der Priester darf über eine politische Stellungnahme verfügen, aber öffentlich darf sie nur unter gewissen Voraussetzungen und den dogmatischen Anforderungen gemäß dargeboten werden. Der erste zu jener Zeit noch kaum bemerkbare, vielversprechen- de Umstand in seinem Lebenslauf war die Wirkung der Enzyklika Rerum Novarum des Heiligen Vaters Leo XIII., in der die sozial- politische Verpflichtung des Katholizismus verkündet wurde. Als der zweite nicht zu vernachlässigende Moment ist sein ab 1893 zu Tage tretender Antisemitismus zu erwähnen. Diese beiden Punkte erschienen später als die vorantreibenden Beweggründe seiner politischen Tätigkeit und als die Ressourcen, aus denen sich die politischen Bestrebungen Prohászkas ernährten - so- wohl was die inländischen Verwicklungen als auch die Vorgänge in der Weltpolitik betrafen. Und diese beiden Gesichtspunkte hat ein noch umfassenderes kognitiv-theologisches Konzept ver- einigt: „[…] die Heilige Schrift sagt uns nicht, wie sich die Welt- all dreht, sondern sie sagt uns wie wir dahin gelangen können.” Alles, was dieser These entgegenstand, war eine Zielscheibe für Ottokar Prohászka. Was die österreichisch–ungarische Außenpolitik anbelangt, heg- te sie europapolitische oder an gewissen Stellen weltpolitische Aspirationen. Das an seiner diplomatischen Kraft geschwächte traditionale Großreich tat alles dafür seine Stellung als Groß- macht zu behalten. Zu Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahr- hundert biss es bei diesen Bestrebungen oft auf Granit. Die nicht bestens laufende Balkanpolitik mit Russland in den 1890ern, die Interessengegensätze mit Deutschland in der Deutschfrage, die voreilig durchgeführte Annexion Bosniens und der Herzegowina trugen dazu bei, dass die Donaumonarchie viel an Renommee und Autorität verlor. Für seine europa- und weltpolitischen Be- strebungen verwendete die österreichisch–ungarische Außenpo- litik eine seltsame, aber seit den ältesten Zeiten an gut bewährte ideologische Konstruktion: Die Dynastie hat immer so gefühlt, sie habe eine vom Gott auferlegte Berufung, die außerordentlich vielen Volksstämme auf ihrem Staatsgebiet unter ihrem Zepter zusammenzuhalten und die Habsburger müssten dieser histori- schen Berufung Genüge leisten. GEFÄLLT IHNEN DAS SoNNTAGSBLATT s ? IHRE SPENDE IST DIE JA-ANTWORT! 16 Aber wie kommen zu diesen geschichtsphilosophischen Er- örterungen die Persönlichkeit und die von der Geschichte er- zwungene politische Rollenverteilung Prohászkas? Für einen der römischen Kirche gehorchenden Geistlichen lag es nicht auf der Hand, diese Berufungsbestrebungen außer Acht zu lassen. Dieses Berufungsbewusstsein der Habsburger erschien nämlich nicht nur in politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Ge- wand. Die Habsburger haben sich nämlich in jeder Zeit als eine katholische Vormacht aufgefasst. Der Akzent muss deutlicher gesetzt werden: nicht nur Großmacht, sondern Vormacht. Tho- mas Mann: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.” Wir können nie genug in die ältesten Jahrhunderte zurückzugehen: Wenn wir einen Blick auf die Rollenübernahme im Dreißigjährigen Krieg werfen, sehen wir einhellig: Für die Verteidigung und die Expan- sion der alleine heilbringenden katholischen Konfession wurden die meisten Opfer dargebracht. Der Gegner in diesem den gan- zen Kontinent umfassenden Konflikt war Frankreich, an seiner Spitze mit Kardinal Richelieu auch, aber nicht so sehr. Der Leiter der habsburgischen Diplomatie, Ferdinand II., hat - ausgegangen von den Interessen der Religion - die Interessen des von ihm repräsentierten Staates für null und nichtig erklärt. Der Leiter der französischen Außenpolitik, Richelieu hat - ausge- gangen von den rationalen Staatsinteressen - im Jahre 1629 die Sache des Katholizismus im Grunde genommen verraten. Henry Kissinger schreibt in seiner groß angelegter Analyse über die Di- plomatiegeschichte: „Richelieu hätte sich nie erlauben können, dass er so eine große Mölichkeit verpasst, welche […] sich für Ferdinand angeboten hat. Die protestantischen Fürsten wären bereit gewesen, die politische Oberhoheit der Habsburger an- zuerkennen, falls diese Oberhoheit sich mit der Religionsfreiheit gepaart hätte, außerdem wenn sie, die Fürsten, ihre während des Reformationskrieges besetzten kirchlichen Besitztümer hät- ten behalten können. Ferdinand II. hat aber seine religiöse Be- rufung seinen politischen Bedürfnissen nicht untergeordnet. Er hat seinen gewaltigen Sieg und die Sicherheitsgarantie seines Reiches zurückgewiesen, um die protestantische Ketzerei auf- zuheben. Er hat seine Restitutionsverordnung erlassen, in der er die Forderung stellte, dass die protestantischen Fürsten die- jenigen Landgüter zurückzuerstatten verpflichtet sind, die sie seit 1555 erworben haben. Das war der Sieg des blinden Eifers über die Zielstrebigkeit, ein typisches Beispiel dafür, wie der Glauben die Gesichtspunkte des politischen Interesses außer Acht läßt. Und den Krieg musste man dann bis zur völligen Erschöpfung fortsetzen.” Richelieu lebte als Privatmensch fromm und gläubig und dies im Großteil auch als Primas von Frankreich. Kirche und Politik hatte er aber voneinander getrennt: Als Politiker folgte er nicht in jeder Hinsicht dem Dogma, er dachte so: Man muss stark genug dazu sein, alles zu machen, was man für nötig hält; die Handlungen des Politikers kann man nicht gemäß der menschlichen Normen beurteilen. „Der Staat ist nicht unsterblich, entweder wird er jetzt selig oder nie.” – pflegte er zu sagen. Aber die die Mitglieder des österreichischen Hauses dachten anders: Sie legten ein großes Gewicht auf diese „Vormachtposition”, was sie auch vom Klerus erwartete– abgesehen davon, ob er in Salzburg, in Prag, in der Bukowina oder in Ungarn diente. Die katholische Geistlichkeit war in Ungarn zur Zeit des Spätdu- alismus in diesem Dilemma geteilt. Die untere geistliche Schicht war mehrheitlich für die Unabhängigkeit, die vollkommene Tren- nung von Österreich. Die oberen Schichten - ab 1905 gehörte ihnen Prohászka selbst an - plädierten für den Dualismus. Nicht anders war es unter den politischen Parteien im ungarischen Reichstag. Die seit 1875 existierende „Szabadelvű Párt” [Frei- sinnige Partei] löste sich 1905 auf und ein Teil der Abgeordneten gründete die so genannte „Alkotmánypárt” [Verfassungspartei], die ein paar Jahre später, 1910, infolge einer Vereinigung mit anderen kleineren Gruppen den Namen „Munkapárt” [Arbeiter- partei] annahm. Alle diese drei politischen Parteien standen auf SoNNTAGSBLATT