Vielfältige Perspektiven
Nelu B. Ebinger: Der Einsiedler von Budaörs. Budaörs:
Jakob Bleyer Gemeinschaft Ungarn e.V. 2018, 106 S.
Von Gábor Kerekes
Die moderne ungarndeutsche Literatur ist alles andere als reich
an Romanen, bei einer genaueren Betrachtung muss man sogar
feststellen: Es gibt ihn, den ungarndeutschen Roman, eigentlich
so gut wie gar nicht, denn entweder sind die Beispiele, die sonst
gerne in diesem Zusammenhang genannt werden, nicht in deut-
scher Sprache verfasst worden (Márton Kalász, Robert Balogh)
oder der Verfasser lebt schon seit seiner Kindheit nicht mehr
in Ungarn (Raile). Auch die meisten Beispiele von auf Deutsch
schreibenden Autorinnen kann man hier nicht als Werke der un-
garndeutschen Literatur gelten lassen, denn entweder stammen
sie nicht aus einer ungarndeutschen Familie und ihre mit Ungarn
verbundenen Themen haben dementsprechend nichts mit dem
Ungarndeutschtum zu tun (Zsuzsa Bánk) oder sie stammen nicht
aus Ungarn (Melinda Nadj Abonji). Nur im Fall von Terézia Mora
gibt es eine in Deutschland lebende, dem Ungarndeutschtum
entstammende Autorin, die sich bisher aber in ihren Romanen
dem Ungarn ihrer Kindheit nicht zugewandt hat, sondern nur in
dem 1999er Erzählungsband „Seltsame Materie“.
Aus diesen Gründen muss man die Romane von Nelu B. Ebin-
ger betrachtend konstatieren: Er steht als ungarndeutscher Ro-
manautor gegenwärtig allein auf weiter Flur. Allerdings kann man
auch nicht übersehen, wie vorsichtig Ebinger selber mit der Gat-
tungsbezeichnung seiner längeren Prosa umgeht, denn er selbst
hat weder seinem 2018 erschienenen Werk „Der Einsiedler von
Budaörs“ noch dem im Jahr zuvor publizierten Buch „Love Story
Budapest“ auf dem Titelblatt eine Gattungsbezeichnung mit auf
den Weg gegeben, weshalb man natürlich dahingehend argu-
mentieren könnte, bei diesen Werken handele es sich gar nicht
um Romane, werden doch historisch dokumentierbare, sozusa-
gen „wahre“ Personen und Begebenheiten gestaltet. Doch ist al-
lein die Nachzeichnung historischer Geschehnisse genauso kein
Argument dafür, dass wir es hier nicht mit Romanen zu tun hät-
ten, wie der umfangreiche Einsatz nichtfiktionaler Texte. Schließ-
lich war dies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit eines
der grundlegenden stilistischen Mittel der neuen Sachlichkeit
und niemandem würde einfallen zu behaupten, Alfred Döblins
Roman „Berlin Alexanderplatz“ sei kein literarisches Werk, nur
weil er Statistiken, Schlagertexte und ähnliche dokumentarische
Passagen in sein Werk integriert hat.
Was beim ersten Roman Ebingers für den Leser noch etwas ge-
wöhnungsbedürftig erschien, ist in „Der Einsiedler von Budaörs“
schon als Methode, als Verfahren, des Autors identifizierbar, al-
lerdings als ein Verfahren, welches er in diesem Werk auf eine
reizvollere und konsequentere Weise anwendet als in seinem
Debutroman.
Erzählt wird die – in ihren Grundzügen authentische – Lebens-
geschichte von Franz Wendler, den man den „Einsiedler von Bu-
daörs“ nannte, und die seines Ururenkels Josef Wendler im 20.
Jahrhundert. 1854 wurde Franz Wendler im Alter von 39 Jahren
Zeuge einer wundersamen Erscheinung, als ein Rosenstrauch
vor ihm in Flammen aufging, in dem das Bild der Muttergottes
Maria zu sehen war. Dies wiederholte sich am nächsten Tag und
auch am dritten, an dem ihn die Gestalt der Vision aufforderte,
an dieser Stelle eine Kapelle zu errichten. Dieser Bau der Kapel-
le, der zur Lebensaufgabe von Franz Wendler wurde, wird hier
im Werk als ein wichtiger thematischer Schwerpunkt dargestellt,
während auf einer anderen Zeitebene im Jahr 2002 die Gestalt
des Josef Wendler, des Ururenkels des „Einsiedlers“ im Mittel-
punkt des Interesses steht. Im Grunde ergibt die Geschichte des
letzteren den Rahmen des Werkes, denn er, der ein Manager
mittleren Alters ist und sich in einer Art Sinnkrise befindet, stößt
auf dem Dachboden des alten Familienhauses der Wendlers auf
die Schriften und Habseligkeiten seines Urgroßvaters, die ihn
neugierig machen. Er forscht über seinen Ururgroßvater nach
SoNNTAGSBLATT
und die Lektüre des Gelesenen macht ihn so neugierig, dass er
schließlich als Ergebnis seiner Forschungen seinem Vorfahren
nacheifert und sich mit all seiner Kraft für die Wiedererrichtung
der inzwischen in Trümmern liegenden Kapelle einsetzt. Ein En-
gagement, das 2003 seine Erfüllung in der Einweihung der Ka-
pelle findet.
Diese Geschichte, eigentlich: diese Geschichten, sind mit ihren
unterschiedlichen Zeitebenen miteinander verflochten, wobei die
fiktionalen Teile - vor allem die Geschichte des Josef Wendler
-in viel größerem Maß erzählerische Passagen beinhalten als
noch jene über die Hauptgestalten im Debutroman des Autors
aufwiesen. Die Entwicklung, die Gedanken und Gefühle von
Josef Wendler sind nachvollziehbar gestaltet. Seine platonisch
bleibende Beziehung mit der Ordensschwester Paulina ist eben-
so eindringlich skizziert wie seine alles andere als platonische
Beziehung zu seiner späteren Frau Klara (in deren Rahmen sich
hier die bis dato explizitesten Beschreibungen – auch der weib-
lichen – Erotik in der ungarndeutschen Literatur finden).
Doch hat der Roman aber mehr zu bieten als eine bloße „Litera-
risierung“ des authentischen Stoffes, indem – und das ist offen-
sichtlich die literarische Methode Ebingers in seinen Romanen
– eine Vielzahl authentischer Quellen (historische, religionsge-
schichtliche, theologische und philosophische) zitiert werden,
wobei diese Quellen in ihrer Ausrichtung und Einstellung nicht
einseitig-uniformiert sind. So finden wir im Wortlaut Dokumente
wie Urkunden, Zitate aus theologischen und kirchengeschicht-
lichen Werken, aber auch Passagen, in denen es etwa um die
heidnischen Ursprünge der Marienverehrung geht, die sich bis
weit in vorchristliche Zeit nach Babylonien erstrecken. Diese
Heterogenität der nichtfiktionalen Quellen stellt gerade den Reiz
des Buches dar, der einen Multiperspektivismus zum Ergebnis
hat, der durch die unterschiedlichen Herangehensweisen, Mei-
nungen und Interpretationen den Leser zum Denken anregt. Ihm
wird nicht eine abgeschlossen-fertige Meinung vorgesetzt, son-
dern er wird zu einer eigenständigen geistigen Anstrengung ein-
geladen – die hoffentlich viele auf sich nehmen werden.
Sicherlich ist das Buch für Leser aus Wudersch am interessan-
testen, doch beinhaltet es ausreichend literarische und histori-
sche Elemente über die ungarndeutsche Geschichte, dass sei-
ne Lektüre für jeden literarisch und geschichtlich interessierten
Menschen attraktiv sein muss.
Angesichts des reizvollen Aufbaus und des Multiperspektivismus
des Werkes kann man nur hoffen, dass dies nicht der letzte Ro-
man aus der Feder des Verfassers war.
s
Leserbriefe
Bemerkung zum Beitrag „Deutscher Vorname. Steh dazu!” von
Richard Guth (SB 04/2019)
Mit nem beszél az a Guth? (Was
plauscht da dieser Guth?)
Landsmann X liest im Internet das Sonntagsblatt und darin den
Artikel von Richard Guth. Röte steigt ihm ins Gesicht und schon
platzt er heraus: „Miért legyek én Josef, mikor az
igazolványomban is József áll és mindenki Józsinak szólít?”
(Warum soll ich ein Josef sein, wobei doch auch in meinem Aus-
weis József steht und man mich allgemein als Józsi anspricht?)
Und um seinem Ärger noch mehr Luft zu geben, seinen Missmut
noch verständlicher zu machen, versäumt er nicht zu ergänzen:
„Az LdU-Vollversammlungnál is Jóskának mondanak és senki-
nek nincs ellene kifogása”. (Auch in der LdU-Vollversammlung
werde ich mit Jóska angesprochen und niemand hat eine Ein-
wendung dagegen.)
(Fortsetzung auf Seite 30)
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